Autonomie und Verbindung: ein Widerspruch?

Als Kinder haben wir nicht viele Wahlmöglichkeiten und dennoch wählen wir. Unbewusst. Diese Entscheidungen bestimmen oft unseren weiteren Lebensweg, ohne dass wir überhaupt wissen, dass wir uns für oder gegen etwas entschieden haben. Eine dieser unbewussten Entscheidungen, die unser Leben prägen, ist die Entscheidung unsere Würde zu schützen oder uns aufzugeben, um Bindung zu erhalten. Beide Entscheidungen haben tiefgreifende Folgen.

Es gibt Kinder, die in dysfunktionalen Familien aufwachsen und Demütigungen, Lieblosigkeit oder sogar Gewalt erleben, die innerlich beschließen nichts und niemanden mehr brauchen zu wollen und nie wieder jemanden so zu lieben, dass sie verletzlich und abhängig sind. Sie schützen ihre Würde und wählen die Autonomie.

Andere Kinder haben unter Aufgabe ihrer Würde, versucht irgendwie eine Bindung und damit etwas Zuwendung von ihren Bezugspersonen zu erhalten. Sie haben Kontakt und Beziehung über ihre eigene Würde gestellt.

Autoregulation und Interregulation

Haben wir eine sichere Bindung erlebt, dann müssen wir uns nicht entscheiden zwischen unserer Würde und Kontakt. Wir lernen, dass wir beides haben können: Liebe und Verbindung in Freiheit und Autonomie. Nur für Menschen aus unsicheren Bindungen sind diese Begriffe Gegensätze, die nicht zu vereinen sind.

Müssen wir wählen, bezahlen wir einen hohen Preis. Egal für welche der beiden Seiten wir uns entschieden haben. In beiden Fällen ist unsere Selbstregulation und gesunde Bindungsfähigkeit meist herabgesetzt und eingeschränkt. Besonders da Betroffene, die sich für Autonomie und Würde entschieden haben, sich nur selbst regulieren können. Sie können keine Regulation durch andere Menschen annehmen. Sie werden sog. Autoregulierer. Leider kann kein Menschen sich immer gut selbst regulieren und so steht die Selbstregulatonsfähigkeit auf wackligen Füßen.

Das gleiche gilt für jene, die sich für Bindung entschieden haben. Sie haben oft große Angst vor dem Alleinesein und brauchen immer jemanden, der sie von Außen reguliert. Sie werden Interregulierer.

Autonomie und Beziehung – unvereinbar?

Schaffen wir es nicht mehr, uns aus uns selbst heraus zu regulieren, dann greifen wir auf äußere Ressourcen – funktionale und dysfunktionale — zurück.

Eine der Hauptquellen, um uns wieder in den optimalen Bereich zu regulieren, ist normalerweise Kontakt. Wir greifen dann auf die älteste Möglichkeit der Regulation zurück, die wir schon als Baby gelernt haben: Bei Stress hilft der Kontakt mit Mama.

Auch als Erwachsene greifen wir auf dieses Verhalten zurück – meistens allerdings vermutlich nicht mit Mama :-). Wir suchen Kontakt, indem wir mit jemanden sprechen, eine Freundin anrufen oder unseren Beziehungspartner aufsuchen. Manchmal reicht Sprechen jedoch nicht und wir suchen Körperkontakt. Wir wollen in den Arm genommen werden oder uns im Arm von jemandem Vertrauten ausweinen. Meist sieht die Welt dann schon anders aus und wir können uns beruhigen und neue Perspektiven einnehmen.

Für Autoregulierer ist es allerdings nicht möglich, mit ihrem inneren Leidensdruck zu anderen Menschen hinzugehen. Sie haben die Fähigkeit, um Hilfe zu bitten, verlernt. Für einige Menschen, die sehr unsichere Bindungen in ihren ersten Lebensjahren erlebt haben, ist es schier unvorstellbar, dass jemand anderes für sie da sein mag. Noch unvorstellbarer ist es für sie, bei jemandem im Arm zu liegen und sich halten zu lassen. Da sie dies nie erlebt haben, liegt diese Erfahrung außerhalb ihres Vorstellungsbereichs und erfüllt sie außerdem mit großer Angst. Die Angst vor Verletzlichkeit, Bedürftigkeit und dem Gefühl jemanden zu brauchen macht ihnen so große Angst, dass sie engere Bindungen häufig vermeiden.

Die meisten Menschen, die sich für Autonomie entschieden haben, haben beschlossen (unbewusst) niemanden mehr zu brauchen oder niemandem mehr zu vertrauen. Wenn Kinder von ihren Eltern gedemütigt oder zurückgewiesen wurden, weil sie nicht alles alleine konnten, ist diese (unbewusste) Entscheidung oft das Resultat. Oder sie haben gelernt, dass sie „überwältigt“ werden, wenn sie jemanden brauchen. Sie haben die Erfahrung gemacht, für jede „Schwäche“ einen Preis zahlen zu müssen.

Dies geschieht, wenn ein Kind um Hilfe bittet – zum Beispiel um einen Baukastenturm höher bauen zu können – und sich dann eine Bezugsperson dazu setzt, dem Kind erst einmal erklärt, was es alles falsch gemacht hat, und dann den Turm alleine baut. Erfährt das Kind immer wieder, dass es entmündigt und entwertet wird, wenn es um Hilfe bittet, dann wird es meist irgendwann nicht mehr fragen.

Schutz der Würde oder Aufrechterhalten der Beziehung?

Die meisten von uns haben irgendwann in unserer Kindheit (wieder nicht bewusst, aber dennoch nachhaltig) zwischen dem Schutz unserer Würde oder dem unbedingten Aufrechterhalten der Beziehung entschieden. Denke bitte einen Moment nach: Wenn du Streit mit deinem Partner oder deiner Partnerin hast, ziehst du dich dann zurück, wirst du aggressiv oder bemühst du dich mit allen Mitteln darum, den Bruch wieder zu kitten, egal um welchen Preis oder wer „schuld“ am Streit war?

Menschen, die aufgrund ihrer Entscheidung als Kind ihre Würde schützen, zahlen oft einen hohen Preis, da sie in die Autonomie flüchten. Sie schneiden sich ab von tiefen Beziehungen. Ein solcher Prozess führt dazu, dass Menschen ihre Bedürfnisse stark verleugnen, damit sie nie mehr jemanden brauchen und sich dann womöglich abhängig und verletzbar fühlen könnten.

Fällt dieser Prozess bei Kindern sehr stark und absolut aus, so haben die Eltern oder Pädagogen irgendwann keinerlei Einfluss mehr auf das Kind. Es wird jedes Beziehungsangebot abwehren und häufig für viel Ärger sorgen.

Menschen, die immer für die Beziehung gehen, zahlen natürlich auch einen Preis: Manchmal mit ihrer Würde und ihrer Selbstachtung. Sie bleiben zu lange und versuchen immer wieder zu reparieren und die andere Person wieder in Beziehung zu bringen. Letztendlich kämpfen sie hier gegen ihre (Todes-) Angst vor dem Alleinsein, vor dem Verlassenwerden. Diese Angst ist so stark, dass ihr vieles geopfert wird. Irgendwann ist es sinnvoll, sich dieser Angst zu stellen, damit man neue Handlungsmöglichkeiten entwickeln und auch die eigene Würde im Kontakt schützen kann.

Der gesunde Weg liegt auch hier wieder in der Mitte: Es geht darum, sowohl in Kontakt und in tiefe Verbindung gehen und um Hilfe zu bitten zu können als auch alleine für sich zu sorgen und Zeit selbst zu genießen. Man sollte auch in der Lage sein, Kontakte abzubrechen, die einem nicht guttun.

Hier findest du mein Youtube Video zu diesem Thema:

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