Bist du lebendig oder funktionierst du?

Heute möchte ich darauf eingehen, was Lebendigkeit eigentlich bedeutet.
Was macht den Unterschied zwischen Lebendigkeit und Funktionalität aus? Und welche Rolle spielt die Dissoziation dabei? Hier kommt es zu vielen Verwechslungen, weil wir das alles schwer begreifen können, solange Trauma und die Auswirkungen noch so massiv in unserem Leben vorhanden sind.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptierst du die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Die Achterbahn der Gefühle

Wenn wir traumatisiert sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass unser Leben ein bisschen wie eine Achterbahn aussieht. Entweder sind wir in der Übererregung, heißt in vielen und großen Gefühlen. Wir sind unruhig und können kaum ruhig auf der Couch sitzen. Oder wir fallen unterhalb des Window of Tolerance (mehr dazu findest du auf der Seite „Was ist ein Trauma?“), das heißt wir sind müde, erschöpft oder spüren gar nichts mehr.
Oft werten wir diese Achterbahn intern als Lebendigkeit, weil wir denken, dass wir eben viel fühlen. Man ist sozusagen zu großen Gefühlen fähig – und zu großen Abstürzen. Davon kann man sogar süchtig werden, weil dabei Endorphine im Körper freigesetzt werden.

Bin „ich“ das oder ist das mein Trauma?

Oft kann hier eine Identifikation mit den „großen Gefühlen“ stattfinden.

  • „Das bin ich!“
  • „Das ist meine Art zu leben!“
  • „Das macht meine Lebendigkeit aus!“

Letztlich kann genau das aber eine Auswirkung von Trauma sein.

Die Sache mit der Dysregulation

Wenn du eine solche Achterbahnfahrt durch deine Gefühle kennst, bedeutet das häufig, dass du deine Emotionen, Gefühle und Zustände nicht gut regulieren kannst.
Vielleicht bist du schon an dem Punkt, an dem du merkst, dass das Ganze ziemlich auslaugend ist? Ist da etwas, das dich immer wieder überwältigt? Kannst du kaum zur Ruhe kommen und bist immer auf dem Sprung?
Diese Schwankungen sind Anzeichen einer tiefgreifenden Dysregulation des Nervensystems.

Bist du bereit die Identifikation aufzugeben?

Viele Menschen neigen dazu, sich mit dem, was sie kennen und fühlen zu identifizieren. Zum Beispiel mit dem Leben auf der Überholspur, der Dramatik in Beziehungen oder ihrer 50 Stunden Woche oder oder…
Meistens ist das Level an Energie und ständigem „Machen und Tun“ irgendwann nicht mehr zu halten und dann kommt der innere Absturz. Menschen gehen in den Burn Out oder fühlen sich einfach nur noch erschöpft und lustlos. Vielleicht kommen auch andere Symptome mehr zum Vorschein und Beziehungen stehen auf dem Spiel.
Kommen Menschen mit diesen Mustern in Therapie, so frage ich sie oft am Anfang, ob sie bereit sind diese Funktionalität und diese hohen und dramatischen Gefühlszustände aufzugeben. Weil es sich meistens grundlegend verändert, wenn wir eine Weile miteinander gearbeitet haben.
Zuerst kommt die darunter liegende Erschöpfung zu Tage. Diese hohe Funktionalität und Identifikation mit dem Tun ist leider hoch sympathikoton, also vom sympathischen Nervensystem gesteuert. Fährt dieses System etwas herunter, so kann das parasympathische System mehr arbeiten und die darunter liegende Müdigkeit und Erschöpfung kommt mehr zu Tage.
Sehr häufig wollen Menschen nach einer Weile gemeinsamer Arbeit auch gar nicht mehr immer nur leisten, tun und machen. Sie beginnen sich mehr zu fühlen und können sich selbst und Stille besser aushalten. Das Leben beginnt sich zu verändern.
Manchmal begleite ich auch Menschen, denen diese Veränderung zu viel Angst macht. Sie können sich nicht vorstellen, dass es dann noch irgendeine Form von Lebensqualität gibt. Sie entscheiden sich dann aus dem Prozess auszusteigen, was auch okay ist, denn es ist ja ihr Leben.

Was ist denn „echte Lebendigkeit“?

Bei echter Lebendigkeit kannst du:

  • dich weit machen.
  • Gefühle spüren und beobachten, ohne weggerissen zu werden.
  • eine Tiefe haben, ohne depressiv oder unglücklich zu sein.
  • auch traurig sein, ohne dass es dich überschwemmt.
  • glücklich sein und die Expansion zulassen, ohne zu überdrehen.

Traumatisierte Systeme fahren Achterbahn

Ganz anders ist dieser Zustand in der Gefühlsachterbahn. Der hat überhaupt nichts mit Ausdehnung und Freude zu tun. Warum? Weil sich traumatisierte Systeme immer eng und fest machen, um überleben zu können.

Weite macht erstmal Angst

Wenn du bei dir selber genauer hinschaust, wirst du das kennen: sobald du weiter, berührbarer und verletzlicher wirst, kommt auch die Angst. Oder „alte Sachen“ kommen wieder hoch. Unser System sagt quasi: „Hey, du machst auf! Jetzt könnten wir mal anbringen, dass wir das und das noch bearbeiten müssten.“ So funktioniert unsere Psyche.

Wie fühlt sich der Unterschied an?

Hier liegt der große Unterschied.
Expansion und innere Weite sind viel weicher und offener für die Welt.
Der Zustand der Übererregung hingegen führt meistens irgendwann zu einem Absturz. Du rotierst in dir selber und bist viel mit dir beschäftigt.
Das ist der für mich ein ganz wichtiger Unterschied. Du gewinnst eine ganz andere Lebensqualität.

Wie Traumaintegration funktionieren kann

Wenn du anfängst deine Geschichte zu integrieren, wirst du zuerst einmal müde werden. Zumindest in dem Sinne, wie ich Traumaintegration verstehe.
Mit der beginnenden Integration werden die Ausschläge weniger, du kommst aus dem Zustand der dauernden Übererregung heraus. Vorher folgte dann immer der Absturz in die Untererregung und damit in die Erschöpfung und Erstarrung.
Das sympathische Nervensystem, das dir die ständige Agilität gegeben hat und dich kaum still hat sitzen lassen, kann ein Stückchen runterfahren. Und damit kommt erstmal die Müdigkeit. Eine Müdigkeit, die daraus resultiert, dass man viele, viele Jahre seines Lebens immer unter Strom stand. Das ist zwar oftmals eine tiefe Erschöpfung, jedoch etwas völlig anders als der Absturz mit dem Gefühl völlig erledigt und sich innerlich tot zu fühlen.

Lebendigkeit ist keine Übererregung

Entsprechend hat Lebendigkeit nichts mit dem Zustand der Übererregung zu tun, das ist eine wirklich wichtige Information. Und Entspannung hat nichts mit dem kollabierten, erschöpften Status zu tun den viele Menschen inzwischen unter Entspannung verstehen.
Entspannung bedeutet, dass immer noch Spannung und angenehme Energie im System ist, dass ich weit werden kann. Bei echter Lebendigkeit dehnt sich mein System aus.

Und was ist mit der Funktionalität?

Abschließend möchte ich noch kurz auf die Funktionalität eingehen. Funktionalität beinhaltet ganz oft nichts zu spüren, sich nicht und andere auch nicht. Das heißt, dass man ein Stück dissoziiert und abgeschaltet ist. Meistens kann man diesen Zustand eine Weile halten, früher oder später kommt man aber wieder in die Über- oder Untererregung.
Funktionalität hat also nichts mit einer lebendigen Integration zu tun.
Dennoch möchte ich die Funktionalität nicht verteufeln, ab und an ist es wichtig, dass wir sie haben. An manchen Tagen rettet sie uns, weil wir z.B. eigentlich traurig sind, aber dennoch zur Arbeit gehen müssen.
Es ist durchaus wichtig, dass wir dieses Funktions-Ich zur Verfügung haben, aber es sollte nicht der Kapitän deines Lebens sein.

An dieser Stelle empfehle ich dir noch meinen Blogbeitrag zum Thema Trauma und Dissoziation.

Artikel teilen:

Ähnliche Artikel

Entwicklungstrauma

Entwicklungstrauma ​ist die versteckte Epidemie unserer Zeit Viele Menschen leiden unter den Folgen eines Entwicklungstrauma, ohne es zu wissen. Manche

Weiterlesen