Co-Regulation ist ein etwas akademischer Ausdruck für eine einfache und unglaublich bedeutende Tatsache des Lebens:
Wir brauchen immer wieder andere Menschen, um uns beruhigen zu können.
Wenn du nun heftig den Kopf schüttelst oder mit dem Kopf nickst, verstehst du einerseits, worum es geht, und andererseits, warum es für manche Betroffenen so schwer ist, sich von einem anderen Menschen regulieren zu lassen.
Menschen sind soziale Tiere und von anderen Menschen und ihrer Umwelt hochgradig abhängig. Wir kommen auf die Welt und müssen komplett versorgt werden. Doch Essen und Trinken, Schutz und Wärme sind bei weitem nicht ausreichend für unser Gedeihen.
Schon früh konnten Forschungen belegen, dass wir auch Fürsorge, Zuwendung, Spiegelung und Körperkontakt brauchen, um uns seelisch und körperlich gut zu entwickeln. Inzwischen sind die Bindungsforschung und die Forschung über Entwicklungstrauma sehr viel weiter gekommen. Sie können nachweisen, wie ein Mangel an liebevoller Zuwendung auf Babys wirkt und welche Langzeitfolgen es für Menschen hat, diese grundlegenden Dinge nicht bekommen zu haben.
Wie geht rechtshemisphärische Kommunikation?
Hast du dich schon einmal gewundert, warum Menschen mit Kleinkindern und Babys vollkommen anders kommunizieren als mit Erwachsenen? Die meisten Menschen verändern ihre Tonlage, sind viel mimischer, machen gurrende Laute und verändern ihre Körpersprache.
Diese Art von Kommunikation nennt man rechtshemisphärisch, weil sie unsere rechte Gehirnhälfte anspricht. Man weiß heute, dass die rechte Gehirnhälfte massgeblich daran beteiligt ist, uns gut zu regulieren. Diese Regelmechanismen sind nicht angeboren, sondern werden durch die konstante Regulation durch unsere Bezugspersonen erlernt und geformt.
Diese Art von Regulation, die vornehmlich durch rechtshemisphärische Kommunikation geschieht, nennt man Co-Regulation. Die Bezugspersonen übernehmen von außen die Regulation, die das Kind noch nicht kann. Kinder kommen mit einem noch nicht ausgebildeten Nervensystem und Gehirn auf die Welt. Und Eltern sollten im besten Falle diese fehlenden Mechanismen von außen “ersetzen”, bis diese sich beim Kind herausgebildet haben.
Wir lernen Selbstregulation durch unsere Eltern
Waren unsere Bezugspersonen genügend verlässlich, konnten empathisch auf uns eingehen, uns spiegeln, trösten und mit uns spielen, dann entwickelte sich über die Jahre im Gehirn die Fähigkeit, adaptiv, reguliert und flexibel auf die innere und äußere Welt zu reagieren. Ebenso wurde der Angstkreislauf des Gehirns gedämpft. Dann können Menschen sich sicher fühlen, sich entspannen und Nähe und Intimität zulassen (siehe Polyvagal-Theorie). Auch die Möglichkeiten zur Selbstreflexion und Empathie anderen gegenüber bilden sich heraus, genauso wie die Möglichkeit, eine Pause zwischen Reiz und Reaktion zu machen.
Menschen, die Entwicklungstrauma, Bindungsverletzungen, Übergriffe und Gewalt erlebt haben, fehlte diese grundlegende liebevolle Co-Regulation oder sie war zu selten, um wirklich wirksam zu sein.
Oftmals unterschätzen wir die Wirkung von elterlichen Verhaltensweisen, weil sie uns als Erwachsene nicht “so schlimm” vorkommen oder wir unsere Eltern verstehen.
Manchmal macht uns unser eigenes Leben ratlos, weil wir uns nicht erklären können, warum wir so viele Schwierigkeiten haben oder so unglücklich sind. Da wir uns an die wichtigsten Jahre unseres Lebens aufgrund der sog. frühkindlichen Amnesie (das biographische Gedächtnis ist noch nicht ausgebildet) nicht erinnern können, denken wir oftmals, dass doch alles okay war. Und folgern daraus, dass etwas mit uns nicht stimmt.
Für Babys reicht es jedoch, um sie in höchsten Stress zu versetzen, wenn eine Mutter nicht empathisch mimisch auf ihr Kind und seine Kontaktwünsche eingehen kann. Falls du ein Beispiel sehen möchtest, dann schau dir das Stillface Experiment von Dr. Edward Tronick bei YouTube oder meinen Beitrag über Bindung an.
Erleben Babys immer wieder, dass sie mit ihren Kontaktversuchen “ins Leere laufen”, hat das schwerwiegende Folgen und ist als Entwicklungstrauma zu bezeichnen.
Wenn die Eltern nicht schwingungsfähig und empathisch sein können oder wollen, ist das Kind in einem ständigen Zustand der Dysregulation. Diesen unregulierten Zustand kann das Kind selbst nicht bewältigen.
Ebenso lernt es, dass jede Erregung Stress ist. Dies führt leider meist dazu, dass Menschen im späteren Leben auch nicht schwingungsfähig für freudige und glückliche Zustände sind. Denn auch dies müssen wir als Babys lernen, indem unsere Bezugspersonen mit uns spielen und manchmal ausgelassen sind und uns dann helfen – wenn es zu viel wird – uns wieder zu beruhigen.
Wenn unser Gehirn nicht weiß, wie Regulation geht
“Genauso wie die Gefühlsregulierung die erste Aufgabe einer guten Erziehung ist, ist sie auch die erste Aufgabe einer wirksamen Therapie.”
in: Sebern F. Fisher, Neurofeedback in the Treatment of Developmental Trauma (Übersetzung mit deepl.com)
Als Erwachsene merken viele Betroffene irgendwann, dass etwas mit ihrem Leben nicht stimmt. Alles ist anstrengend und häufig sind Beziehungen sehr schwierig. Intimität und Nähe sind für manche Betroffenen kaum oder gar nicht möglich. Andere können kaum Distanz aushalten, lösen sich in einer Partnerschaft auf und sind von ständigen Verlustängsten geplagt.
Stress ist nicht nur anstrengend und manchmal vorhanden, sondern ein Lebensbegleiter. Ängste und Depressionen können ebenfalls die Folgen von einer wenig co-regulierten Kindheit sein. Die Symptome sind vielfältig und wesentlich weiter gefächert, als das ICD10 oder DSM beschreiben.
Manchmal suchen Betroffene dann eine Psychotherapie, um ihre Probleme zu bearbeiten. Das Problem mit Psychotherapie ist, dass sie oft rein linkshemisphärisch arbeitet. Das bedeutet, sie arbeitet über Sprache, Erkenntnis und Verstehen. Selbst wenn man als Klientin Gefühle wiedererlebt oder fühlt, kann es sein, dass die wichtigen Komponenten Co-Regulation und rechtshemisphärische Kommunikation nicht genügend oder gar nicht vorhanden sind.
Verstehen alleine reicht nicht aus
Das Problem dabei ist, dass die Betroffenen dann zwar irgendwann alles verstehen. An ihrem Lebensgefühl und ihren Problemen verändert sich aber dennoch oftmals nichts Wesentliches. Manchmal werden Betroffene auch als therapieresistent, widerständig oder nicht therapiefähig bezeichnet. Dies kann sehr verletzend sein und untergräbt das Selbstwertgefühl noch weiter.
Menschen, die kaum elterliche Zuwendung erfahren haben, befinden sich in einem Dilemma. Da sie tatsächlich so dysreguliert sind und ihr Gehirn so von Angst überflutet ist, ist es für sie kaum möglich, sich zu spüren oder Kontakt und Beziehung zuzulassen. Ebenso ist die Fähigkeit des Lernens aus Erfahrung oftmals durch eine solche “mutterlose” Kindheit eingeschränkt, da alles immer mit Angst überschattet ist. Auch wenn die Angst manchmal nicht gespürt wird, sondern eher als “Gefühllosigkeit” erscheint.
Diese Menschen haben schlichtweg die erforderlichen Referenzen, Fähigkeiten und Regulationskreisläufe nicht, um eine Therapie erfolgreich machen zu können. Es kann sein, dass Betroffene Jahre in Therapien versuchen zu heilen und zunehmend frustriert von ihren Bemühungen sind und sich immer weiter abwerten.
Es ist mir wichtig zu betonen, dass dies nicht an dir liegt, sondern an deiner Geschichte und den Voraussetzungen, die du mitbringst.
Wenn du denkst, dass das auf dich zutrifft, solltest du dich grundlegend informieren und auch neue Wege in Betracht ziehen. Eine körperorientierte Psychotherapie, aber vor allem ein Therapeut, der um diese Dinge weiß und rechtshemisphärische Kommunikation und aktive Co-Regulation in seinem Arbeitsspektrum hat, können Erfolge bringen. Ebenso kann Neurofeedback eine Möglichkeit sein, dem Gehirn beizubringen, wie es regulierter arbeiten kann. Neurofeedback kann u.U. die Lücke schließen, die durch Therapie nicht oder nur sehr schwer und nur langfristig zu schließen ist. Mit Neurofeedback lässt sich eine grundlegende Regulierung erlernen, mit der dann eine weiterführende Therapie möglich ist. Idealerweise ist das Neurofeedback mit einer Psychotherapie verbunden, dann scheint es die besten Ergebnisse zu bringen.
Die Bedeutung von Co-Regulation im Alltag
Co-Regulation ist für uns allerdings nicht nur in einer Psychotherapie von Bedeutung, sondern auch in unserem Alltag. Sobald wir mit Menschen in Kontakt treten, beginnen sich unsere Nervensysteme zu koordinieren. Deshalb sind wir immer für die Stimmungen der Menschen um uns herum empfänglich. Das macht es auch oft schwer, andere Wege zu gehen, wenn unsere nächsten Menschen darauf mit Ärger, Liebesentzug oder Ähnlichem reagieren.
Wie gut Paare sich gegenseitig regulieren können, ist ein wesentlicher Faktor für die Stabilität ihrer Beziehung. Wissen die Beziehungspartnerinnen und -partner, was ihr Gegenüber bei Stress braucht, um sich wieder beruhigen zu können? Diese gegenseitige Regulation gibt Stabilität und Sicherheit.
Dies ist aber nicht nur auf Liebesbeziehungen begrenzt. Wir können auch lernen, uns in Freundschaften gegenseitig zu regulieren. Manchen Menschen hilft es, ein aufmerksames Gegenüber zu haben und erzählen oder weinen zu dürfen. Andere brauchen eine Hand oder eine Umarmung. All dies können wir lernen zu empfangen und zu geben. Oftmals fällt es Menschen schwerer zu empfangen als zu geben, doch auch das kann man mit der Zeit lernen.
Damit wir uns co-regulieren können, müssen wir uns ein bisschen öffnen und verletzlich machen, sonst kann die Regulation nicht bei uns ankommen. Dies macht vielleicht zunächst Angst. Aber je mehr wir realisieren, dass jetzt nichts Unangenehmes passiert, desto mehr können wir diese Art von Zuwendung annehmen – auch wenn das Gefühl zunächst fremd ist.
Sind der Kontakt und die Zuwendung von Menschen mit zu viel Angst besetzt, so können Tiere eine Möglichkeit sein, dies zu lernen. Für manche Menschen ist es am Anfang ein Baum, an den sich sich lehnen und dessen Stabilität fühlen können. Das ist vollkommen in Ordnung. Mit der Zeit traust du dich dann vielleicht, dies auch von Menschen anzunehmen.
Co-Regulation ist also ein wissenschaftlicher Ausdruck für eine der menschlichsten Formen der Zuwendung. Nämlich mit der eigenen Stärke, Zuwendung und Mitgefühl für jemanden da und präsent zu sein oder dies von jemandem zu empfangen.
Diese Unterstützung brauchen wir alle unser ganzes Leben lang immer wieder. Es ist menschlich und normal, Zuwendung und Trost zu brauchen – auch wenn wir sonst schon groß und stark sind.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.