Corona & Trauma: Das Trauma folgt dem Virus und seinen Auswirkungen

Die Welt um uns herum verändert sich in einer Geschwindigkeit, die mir den Atem raubt und mir jeden Tag mehr Angst macht.

Nun schweige ich seit Wochen und versuche, meine Gedanken eher für mich zu behalten. Gleichzeitig beobachte ich mit wachsendem Entsetzen, was um mich herum geschieht. Heute ist nun der Tag gekommen, an dem ich nicht mehr schweigen möchte – weder als Mensch noch als Traumatherapeutin. In diesem Blogartikel widme ich mich dem Thema Corona und Trauma.

Kollektives Trauma Corona: Unser Umgang mit dem Virus und dessen Folgen

Versteh mich nicht falsch. Ich habe keine Angst vor dem Corona-Virus. Ich habe Angst vor den Auswirkungen unseres Umgangs mit COVID-19. Inzwischen haben wir fast überall Maskenpflicht und das „Social Distancing“ verfestigt sich und wird zur „neuen Normalität“. Überall wird Abstand gehalten und oft sehe ich die Angst in den Gesichtern von Menschen, wenn etwas „zu nah“ wird.

Diese künstliche Distanz wird nun noch verstärkt mit dieser Maske vor dem Gesicht. Ich gehe durch die Stadt und erkenne die Gesichter nicht mehr. Ich kann nicht mehr erkennen, wie es jemandem geht, ich bekomme keine visuelle Resonanz mehr. So gesehen ist Corona das Trauma unserer Zeit. Hast nicht auch du schon gemerkt, dass die Maßnahmen im Umgang mit COVID-19 etwas mit uns machen!? Das führt dazu, dass ich keine Ahnung mehr habe, wie dieser Mensch denkt oder fühlt. Ich bekomme kein soziales Feedback mehr, ich fange an, innerlich unsicher zu werden.

Bekommen wir aber kein Feedback, keine Resonanz auf unseren Blick, auf unsere Mimik, auf das, was wir sagen, also schlicht auf uns als Menschen, werden wir selbstunsicher und ängstlich.

Wir Menschen sind darauf angewiesen, in Resonanz zu gehen!

Wir brauchen den Blick, die Mimik einer anderen Person.

Es gibt ein spannendes psychologisches Experiment, welches sich auf den Themenkomplex “Maskenpflicht, Corona und Trauma“ übertragen lässt. In diesem Experiment werden Bewerbungsgespräche mit Menschen geführt und keiner der Interviewenden gibt per Mimik ein Feedback. Die Bewerber werden einfach mit steinernem Gesicht angeschaut. Der Stresslevel der Bewerber „geht durch die Decke“. Die meisten können sich kaum noch regulieren und versagen oft kläglich bei ihrem Jobinterview. Fehlendes mimische Feedback aufgrund der Maskenpflicht ist in Zeiten von COVID-19 Alltag.

Soziales Miteinander ist kein „nice to have“ – es ist eine Lebensnotwendigkeit!

Seit Wochen sind nun schon viele Menschen sehr alleine und ohne ein nahes soziales Feedback. Und sie sind nicht nur alleine, sie sind einsam. So wird Corona zum Trauma! Viele haben keinen Körperkontakt, spüren keine Umarmung und kein nahes Gespräch mehr in ihrem Alltag. Für sensible Betroffene und Trauma-Patienten kann das durchaus traumatische Auswirkungen haben bzw. Trauma-Symptome intensivieren.

Die Bundesregierung und die Landesregierungen erlauben in den meisten Fällen den Kontakt unter Familienmitgliedern. Das ist schön, wenn man „direkte“ Familienmitglieder hat und wenn man diesen dann auch noch nah sein möchte. Aber was ist mit denen unter uns, die auch eine Familie haben, diese aber nicht aus Blutsverwandten besteht? Was ist mit allen sog. „alternativen“ Lebensentwürfen?

Einsamkeit macht uns krank. Kontaktlosigkeit kann uns in die Depression führen. Allein sein lässt uns auf Dauer unglücklich werden. Das Corona-Trauma führt uns mehr denn je vor Augen, dass wir soziale Wesen sind.

Wir brauchen Kontakt, wir brauchen unsere Freunde, wir brauchen es, miteinander zu lachen, zu kochen, zu sein. Wir brauchen Berührung und Nähe, um uns zu beruhigen. Sogar unser Immunsystem leidet unter dem Social Distancing!
Unser Verstand mag das Social Distancing als Maßnahme verstehen, unser Körper und unsere Psyche verstehen es jedoch nicht. Die Ereignisse rund um COVID-19 machen uns betroffen und können für uns eine traumatische Qualität haben.

An dieser Stelle empfehle ich dir meinen Blogartikel zum Thema „sich einsam fühlen“.

Wenn wir zu lange allein sind, gehen wir innerlich verloren!

Das Corona-Trauma ist häufiger auch für Personen allgegenwärtig, die ein weniger großes Kontaktbedürfnis haben. Auch sie gehen hin und wieder in ein Café, ins Kino, ins Restaurant etc., um am sozialen Leben teilzuhaben und Ereignissen wie Konzerten oder Sportveranstaltungen beizuwohnen. Langanhaltende Einsamkeit verursacht Stress. Dies ist evolutionär tief in uns verankert, ob wir diesen Stress nun in uns wahrnehmen oder nicht. Ich bin mir sicher, wenn man momentan den Cortisollevel von Menschen testen würde, dann würde man einen extrem hohen Stresswert feststellen. Für Betroffene und Patienten, die ohnehin unter einem hohen Stresslevel stehen, ist dieser traumatische Aspekt der Coronakrise folglich doppelt schlimm.

Gemeinschaft als soziales Miteinander

Der gefühlte Verlust von Gemeinschaft ist das wesentliche Problem des Corona-Traumas. „Gemeinschaft“ umgibt uns normalerweise auf vielen Ebenen. Sie ist oft da, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen – das Eis beim Italiener, der Gang ins Kino, der Bummel durch die Stadt oder sonstige soziale Ereignisse. Überall sind Menschen und unsere Nervensysteme nehmen dies wahr.

All dies wird durch das Social Distancing, durch die Kontaktverbote, durch die Vermeidung von „Menschenansammlungen“ immer häufiger außer Kraft gesetzt.

Wir können das sicher eine gewisse Zeit „aushalten“, aber je länger diese Isolation andauert, desto größer werden die Spätfolgen sein!

Die „traumatischen“ Folgen der Krise

Grundlegend gilt für Corona und Trauma: Ich weiß, dass für traumatisierte Menschen andere Menschen oft auch eine Gefahrenquelle darstellen. Dennoch brauchen alle ein Maß an sozialem Miteinander, das momentan nicht mehr gewährleistet ist. Einsamkeit erzeugt Angst, Depression, Traurigkeit, Isolation, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen und vieles mehr. Angst wiederum erzeugt Einsamkeit, Stress, Depressionen, Wut und Panikattacken.

Andere Menschen haben z. Zt. zu viel soziale Nähe und gleichzeitig zu wenige Fluchtmöglichkeiten. Die Zahlen von Kindesmissbrauch, Gewalt an Frauen und Kindern sind massiv hoch hinter verschlossenen Türen. Der Konsum von Alkohol und Drogen und Streamingdiensten steigt. Auch die „Pornoindustrie“ verzeichnet Höchstrekorde.

Ich mag mir gar nicht vorstellen, was an vielen Orten gerade hinter verschlossenen Türen geschieht. Ich konnte wenigstens noch in die Schule gehen und draußen spielen, um eine Pause zu haben von dem, wie es zu Hause war. Diese Möglichkeit ist den Kindern nun genommen.

Als Menschen reagieren wir sehr empfindsam auf Enge und soziale Machtgefälle.

In Experimenten und Studien konnte man nachweisen, dass unser Stresslevel sich um ein Vielfaches erhöht, wenn wir mit einer dominanten Person auf zu engem Raum eingesperrt werden. In Tierversuchen gibt es Tiere, die dann nach einiger Zeit sogar sterben, weil der Stress so hoch wird. Diese Situation ist durch das Corona-Trauma sicher für viele Kinder und Frauen und auch einige Männer momentan seit Wochen gegeben.

Als Folge gehen Menschen gehen in den „Shut Down“, der älteste Vagusnerv wird aktiv und Menschen ergeben sich und erstarren. Wir dissoziieren und funktionieren, sind aber nicht „bei uns“. Diese innere Erstarrung findet bei empfundener Ausweglosigkeit statt.

Wir werden in der Folge einen massiven Anstieg von Trauma-Symptomen sehen, für den wiederum unser soziales Gesundheitssystem überhaupt nicht ausgerüstet ist. Es gibt schon jetzt viel zu wenige Therapieplätze mit gut ausgebildeten Traumatherapeuten. Es wird viele Menschen geben, die neu traumatisiert werden, und viele, bei denen alte Traumata reaktiviert werden und wieder aufbrechen. Corona und Trauma gehen Hand in Hand und erzeugen einen gefährlichen Teufelskreis.

Überleben!

Menschen können und haben jede Katastrophe überlebt! Es gab allerdings einen Faktor, sozusagen unsere „Wunderwaffe“, wie wir das geschafft haben:
Durch soziales Miteinander, Gemeinsamkeit und Verbundenheit.
Und genau das ist momentan unterbrochen und noch so viele Lieder bei YouTube über Verbundenheit und noch so viele Zoomtreffen können einen realen Kontakt nicht ersetzen.

Unser Körper kennt den Unterschied.

All das Wissen, das ich gesammelt habe, sagt mir, dass gerade etwas geschieht, dass tiefe Wunden hinterlassen wird. Wunden, die nicht mit dem Verschwinden des Virus vernarbt sein werden. Je länger diese Situation aufrechterhalten wird, desto schlimmer.

Außerdem gibt es hinsichtlich Corona und Trauma zusätzlich noch Bruchlinien, die nur schwer heilen werden, die durch den unterschiedlichen Umgang mit dem Virus entstehen. Dieser wird in Teams, Familien, zwischen Freund*innen und Partner*innen Risse hinterlassen.

Was ist mit den tausenden von Menschen, die ihre Familie nicht sehen dürfen? Was ist mit denen, die Angehörige haben, die ins Krankenhaus müssen, und sie diese nicht sehen, nicht unterstützen und ihnen nicht die Hand halten dürfen? Was macht das Corona-Trauma mit Trauernden? Was ist mit den Menschen, die nicht gemeinsam trauern dürfen, weil es nicht erlaubt ist, Trauerfeiern abzuhalten? Hier werden Menschen Jahre darunter leiden, keinen Abschied gehabt zu haben – aber auch darunter, keinen Beistand in schweren Stunden geleistet haben zu dürfen.

Was ist mit Kindern, die nicht mit anderen Kindern spielen dürfen und lernen, dass es besser ist, sich fernzuhalten?
Was wird bleiben, wenn Nachbarn andere Nachbarn anzeigen, weil sie Besuch haben?

Wirtschaftliche Schäden durch Corona zerstören Existenzen

Und dann sind da noch die Menschen, die eine Depression bekommen oder sich aufgrund des Corona-Traumas gar suizidieren werden, weil sie ihre Lebensgrundlage verloren haben – weil ihr mühsam aufgebautes Geschäft gerade kaputt gegangen ist oder sie keine Nacht mehr schlafen, weil sie Angst haben, dass dies bald geschieht. Posttraumatische Belastungsstörungen aufgrund der Situation in Zeiten von COVID-19 sind ein Faktor, mit dem gerechnet werden muss.

Und egal wie sehr wir vielleicht den Kapitalismus anzweifeln, so sind doch die meisten von uns von einem Lohn abhängig, der von irgendjemandem erwirtschaftet werden muss. Und machen wir uns nichts vor, die Unternehmen, die es nicht überleben werden, sind die „Kleinunternehmer“.

Auch bei uns im Seminarbetrieb spüren wir das kollektive Trauma Corona. Alle Räder stehen still. Keine Gruppe findet statt. Körperpsychotherapie ist gerade nicht vorstellbar und wir wissen nicht, wann sich dies wieder ändert. Körperpsychotherapie mit 2 Meter Abstand und Gesichtsmaske wäre reiner Zynismus. Körperkontakt ist nicht „systemrelevant“.

Zu den Langzeitfolgen, die ich befürchte, gehört eine noch größere soziale Trennung. Ein Rückzug in die Kleinfamilie. Eine diffuse soziale Angst, die sich festsetzt.

Ich habe Angst, dass es sich in den Köpfen verfestigt, dass andere Menschen dafür verantwortlich sein könnten, dass ich krank werde oder gar sterbe – dadurch wird mein Gegenüber zum Feind! Das Corona-Trauma hält Einzug in unser soziales Miteinander. Schon jetzt sehe ich genau diese Angst in vielen Augen auf der Straße. Der Mechanismus der Angst, der momentan so tiefgreifend ist, ist ein zweifacher:

  • Ich werde krank und könnte sterben
  • Ich stecke jemanden an und bin verantwortlich für deren Tod

Es sei dahingestellt, ob diese Ängste real sind. Sie sind dennoch sehr wirksam und werden lange weiterwirken, auch nachdem der Lockdown beendet ist oder gelockert wird – und wir hoffentlich wieder unmaskiert einkaufen gehen können.

Ich habe Angst, dass momentan auf breiter gesellschaftlicher Basis Sozialphobien verstärkt oder installiert werden und uns posttraumatische Belastungsstörungen längerfristig begleiten werden. Das Corona-Trauma wird Folgen haben. Lange.

Gleichzeitig belegen Studien Zusammenhänge zwischen COVID-19-Erkrankungen und dem vermehrten Auftreten von Trauma-Symptomen wie Stress und Schlafstörungen.

Es darf diese „neue Normalität“ der sozialen Distanz nicht geben!

Eine „neue Normalität“ wird uns langfristig nicht stärker machen, sondern schwächer. Menschen werden noch weniger Bindung und Verbundenheit fühlen und dies wir uns psychisch schädigen – als Individuum und als Gesellschaft.

Kein Mensch ist eine Insel. Bitte vergesst nicht, was ein normaler Umgang miteinander ist. Vergesst nicht, dass ein Gesicht auch zum Lächeln da ist und Hände zum Berühren. Bitte tragt die Maske nur, wenn es wirklich notwendig und verordnet ist. Nutzt die Zeit auf der Straße wieder Kontakt herzustellen und mit Menschen zu reden, Menschen anzulächeln. Lasst uns einander das Gefühl geben, dass wir wichtig sind und gesehen werden.
Das Leben wird weiter gehen. Wir müssen nun entscheiden, wie es weiter gehen soll.

Einen spannenden Artikel, wie ich finde, hat dazu auch die Traumaexpertin Michaela Huber verfasst. Lies dich gerne auch in andere interessante Beiträge von mir ein. Der Beitrag zum Umgang mit Wut ist dabei besonders empfehlenswert. Schaue gerne mal vorbei!

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