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Das wahre Selbst: Illusion oder Wirklichkeit?

von | 06.05.2022 | 5 Kommentare

Immer wieder gibt es psychotherapeutische Publikationen, die sich mit dem “*wahren Selbst*” beschäftigen. Der Begriff geht auf die Human-Potential-Bewegung zurück und wird häufig in Schriften verwendet, die in der Schnittmenge aus Esoterik und Psychotherapie entstehen. Für mich stellt sich dabei immer wieder die Frage: Wovon sprecht ihr da genau?

Weil ich weiß, dass auch du und andere Leserinnen und Leser schon vor dieser Frage gestanden habt, möchte ich mich in diesem Beitrag und im verlinkten Video zum wahren Selbst äußern und meine Gedanken dazu teilen. Mir ist wichtig, dass du meine Meinung nur als eine von vielen verstehst, die dir aber vielleicht noch mal neue Gedankenanstöße zum Thema liefert.

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Idee des wahren, höheren Selbst verursacht Stress

Dieser Text ist mir wichtig, weil ich glaube, dass das Konzept des wahren oder höheren Selbst bzw. des echten Ich uns unter Stress setzen kann. Erstrecht deshalb, weil viele Meinungen, die dazu kursieren, gar nicht als solche Erkennbar sind. Hier wird das wahre Selbst einfach als existent angenommen und setzt alle, die in ihrer spezifischen Situation Schwierigkeiten damit haben, unter Druck.

Diesen Druck möchte ich relativieren, indem ich dir meine Meinung zum Thema aufschreibe. Gleichsam möchte ich darauf hinweisen, dass alle anderen Veröffentlichungen ebenso nur Meinungen enthalten. Jede und jeder muss für sich den Umgang mit dem Konstrukt des höheren Selbst finden.

Was steckt hinter der Idee des “wahren Selbst”?

Die Idee des wahren Selbst hat sich vermutlich in den 60er-/70er-Jahren in der Human-Potential-Bewegung gebildet und ist im Grunde eine Verbindung östlicher Ideen und westlicher Psychotherapie. Die Grundannahme dabei ist, dass es in jedem Menschen ein Kern-Selbst gibt, um das sich das Ich bzw. die Persönlichkeit organisiert und mit welchem wir der Welt begegnen. In bestimmten Schulen wird dabei die These vertreten, dass dieses wahre Selbst unzerstörbar sei und somit immer erhalten bleibe.

Der Unterschied zum Begriff der “Seele”

Ob man an ein höheres Selbst glaubt, muss, ähnlich wie bei der Frage nach der Seele, jeder für sich selbst beantworten. Für mich gibt es hier jedoch einen deutlichen Unterschied hinsichtlich dessen, was beide Begriffe mit uns machen.

Der Begriff Seele hat für mich eine etwas andere “Geschmacksrichtung” und ist eher neutral. Die Vorstellung davon, dass jeder Mensch eine Seele hat, die in ihm wohnt und im Todesfall entweicht und weiterzieht, kann ich so annehmen – ganz gleich, ob ich daran glaube oder nicht. Anders ist es aber beim wahren Selbst. Hier steckt in dem Begriff schon eine gewisse Aufforderung mit drin – nämlich, dass das wahre Selbst etwas ist, das es zu erreichen gilt, um Antworten zu finden auf die Probleme unserer Tage.

Die Erlangung des höheren Selbst als Ziel?

Mit dieser Vorstellung vom wahren Selbst habe ich Probleme, denn wer sagt mir denn, dass ich bei meinem wahren Selbst angekommen bin?

Wenn mir jemand sagt, er wollte mehr er selbst sein und so bei seinem wahren Selbst ankommen, dann klingt das für mich problematisch. Es klingt so, als wäre das Erreichen des höheren Selbst ein Ziel, an das zu gelangen es gilt und anschließend hat man es geschafft und wird für immer dortbleiben.
Hier möchte ich jetzt meine Erfahrungen weitergeben und sagen: Dieses Ziel gibt es nicht. Gewiss hat man zwischenzeitlich Momente, in denen man sich “angekommen” fühlt, doch ein paar Monate später kommt ein neues Thema oder ein neues Problem, die dann offenlegen, dass doch noch etwas in einem eingeschlossen war, das sich jetzt erst zeigt. – Und das ist ganz normal und in Ordnung!

Dynamik gehört zum Leben: Die Idee des höheren Selbst ist zu statisch

Nach meiner Auffassung ist die Idee, dass es ein wahres Selbst gibt, sehr statisch. Und ich sehe es als sinnvoll an, sich von jeder Art von Statik in Bezug auf sich selbst zu verabschieden. Es ist doch schließlich so: Man bewegt sich dynamisch durch das Leben, wächst stetig, verändert sich.
Niemand auf der Welt kann beurteilen, ob jemand anderes in seinem wahren Selbst angekommen ist. Und, und das scheint fast noch wichtiger: Wir können es auch selbst nicht über uns sagen, weil wir heute nicht wissen können, wie wir in 10 Jahren sein werden.

“Das höhere Selbst” und Trauma

Ich persönlich benutze den Begriff des höheren Selbst deshalb in meiner Arbeit nicht. Ich glaube außerdem auch nicht, dass das Selbst unzerstörbar ist. Denn es gibt einfach Dinge und Erlebnisse, die uns zersplittern lassen, die uns psychisch zugrunde richten können. Und es gehört zur Wahrheit dazu, dass es Menschen gibt, die vor dem Hintergrund ihrer Erlebnisse und ihrer persönlichen Geschichte keine Ahnung haben, wer sie selbst überhaupt sein könnten. Menschen, die an ihrem Alltag scheitern und sich nicht lebensfähig fühlen.

Diesen Menschen entgegnet die Theorie vom wahren Selbst bis zuletzt, dass ihre Gefühle und ihre täglichen Kämpfe nicht real sind, weil das wahre Selbst ja unzerstörbar ist. Für mich, fühlt sich das beinahe zynisch an.

Frage dich selbst: Wie möchte ich mit dem Begriff des wahren Selbst umgehen?

Mit diesem Text und meinem Video möchte ich dich einladen, mit dir selbst in die Diskussion zu gehen, wie du mit dem Begriff des wahren Selbst umgehen möchtest und was er für dich bedeutet. Wichtig ist dabei auch, dass du dich fragst, ob dich diese Thematik vielleicht auch unter Druck setzt, weil du unbedingt das Ziel des wahren oder höheren Selbst erreichen möchtest, weil du komplett heil oder echt und wahr werden möchtest. Rufe dir ins Gedächtnis, dass niemand, auch nicht du selbst, eine Beurteilung vornehmen kann, ob das wahre Selbst erreicht ist.

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5 Kommentare

  1. Hallo Dami,
    Dein Beitrag hat mich zum Nachsinnen zum Nachspüren angeregt. Ich bin Überlebende und seit vielen 24h Stunden auch Genesende von multipler, auch sexueller, Gewalt als Kind und als junge Erwachsene. Und ich teile hier meine ureigene Erfahrung. Ohne meinen unzerstörbaren inneren Kern, den ich den göttlichen nenne, hätte ich nicht überlebt, könnte kein posttraumatisches Wachstum erleben. Allerdings weiß auch ich, dass Menschen psychisch ganz zerstört werden können. Und meiner Erfahrung nach bleibt dieser Kern dennoch, auch wenn er während des Lebens verdeckt bleibt, nicht spürbar ist. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Unzerstörbare in uns allen spätestens beim Sterben, bei unserem Weitergehen ans andere Ufer auf irgend eine Art wirksam wird. Für mich ist das wahre, das höhere Selbst, der innere Kern, die Essenz nicht etwas, was erreicht werden muss, sondern etwas, was schon immer da ist.
    Liebe Grüße Mirijam

    Antworten
  2. Geht mir genauso wie Mirijam. Etwas, das da ist eher als Geschenk denn als Leistung.

    Antworten
  3. Liebe Dami,
    ich schätze Deine Arbeit sehr.
    Aus eigener Traumaerfahrung, meinem Heilungsweg und aus meiner therapeutischen Arbeit mit sehr vielen Klienten kann ich das Gegenteil von Druck feststellen, wenn das wahre Selbst erkannt wird. Den Begriff „Höheres Selbst“ vermeide ich möglichst auch, weil es ein Ungleichgewicht impliziert: das Selbst ist groß, das Ich ist klein. Doch das Gegenteil ist meiner Meinung nach der Fall: Es geht um die Anerkennung zweier Wirklichkeiten im Menschen, und diese stehen gleichwertig nebeneinander. Keine ist größer oder höher, sondern sie ergänzen sich perfekt im Zusammenspiel.
    DAS SELBST erlebe ich als unsere grenzenlose, unsichtbare Wirklichkeit, erfahrbar als Verbundenheit, Liebe, Vertrauen, bedingungslose Unterstützung. Es ist immer da, und wirkt in dem Moment, wo ICH ihm eine Chance gebe.
    DAS ICH als einzigartiges Individuum mit all seinen Ausdrucksformen ist die andere Seite der Medaille. Hier passiert wählen, handeln, ausprobieren, Suche, Irrtum, Schmerz und Leid – oder auch nicht. Es ist mein individueller Weg auf dieser Erde in Raum und Zeit.
    Wenn Menschen die Selbstqualität erfahren dürfen, geht das über den Verstand, das Gefühl, das Erlebte, das Trauma, den Körper, über Raum und Zeit hinaus, schließt das jedoch alles mit ein. Sie fühlen sich bedingungslos geliebt – vielleicht das erste Mal in ihrem Leben – gehalten, getragen, angekommen. Diese Verbindung zwischen Ich und Selbst zu leben, zu erneuern, in den Alltag zu integrieren, die Veränderungen der Menschen im Kontakt damit zu sehen, ist solch eine große Freude, ich kann es gar nicht beschreiben. Es ist für mich also kein „entweder kleines Ich oder höheres Selbst“, sondern ein Wiedererkennen der Ganzheit und die Aufhebung des „Trennungstraumas“ der Menschen.

    Antworten
  4. Vielen Dank für die Denkanregung und Fragestellung, Dami. I love your preparedness to challenge established thinking and offering that liberty to others.
    Personally, I feel closer to the views set out in the very eloquently put comments above.
    In my experience, I get to access what one could describe as das wahre Selbst when feeling present and in connection with my self and the universe (for lack of a better word). It is indeed not static or a given but takes continuous revisiting,. This may be frustrating to the human mind that likes simple solutions but what is ‘true’ about the ‘self’ partly lies in its dynamic and elasticity, and this is our nature and nature in general I suppose.
    So perhaps, in essence, we are all not talking about vastly different things at all, just having different approaches and words for it.
    With much love and respect for all you brave women and people out there doing this work and contributing to our humanity that way.

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