Immer wieder gibt es psychotherapeutische Publikationen, die sich mit dem “*wahren Selbst*” beschäftigen. Der Begriff geht auf die Human-Potential-Bewegung zurück und wird häufig in Schriften verwendet, die in der Schnittmenge aus Esoterik und Psychotherapie entstehen. Für mich stellt sich dabei immer wieder die Frage: Wovon sprecht ihr da genau?
Weil ich weiß, dass auch du und andere Leserinnen und Leser schon vor dieser Frage gestanden habt, möchte ich mich in diesem Beitrag und im verlinkten Video zum wahren Selbst äußern und meine Gedanken dazu teilen. Mir ist wichtig, dass du meine Meinung nur als eine von vielen verstehst, die dir aber vielleicht noch mal neue Gedankenanstöße zum Thema liefert.
Idee des wahren, höheren Selbst verursacht Stress
Dieser Text ist mir wichtig, weil ich glaube, dass das Konzept des wahren oder höheren Selbst bzw. des echten Ich uns unter Stress setzen kann. Erstrecht deshalb, weil viele Meinungen, die dazu kursieren, gar nicht als solche Erkennbar sind. Hier wird das wahre Selbst einfach als existent angenommen und setzt alle, die in ihrer spezifischen Situation Schwierigkeiten damit haben, unter Druck.
Diesen Druck möchte ich relativieren, indem ich dir meine Meinung zum Thema aufschreibe. Gleichsam möchte ich darauf hinweisen, dass alle anderen Veröffentlichungen ebenso nur Meinungen enthalten. Jede und jeder muss für sich den Umgang mit dem Konstrukt des höheren Selbst finden.
Was steckt hinter der Idee des “wahren Selbst”?
Die Idee des wahren Selbst hat sich vermutlich in den 60er-/70er-Jahren in der Human-Potential-Bewegung gebildet und ist im Grunde eine Verbindung östlicher Ideen und westlicher Psychotherapie. Die Grundannahme dabei ist, dass es in jedem Menschen ein Kern-Selbst gibt, um das sich das Ich bzw. die Persönlichkeit organisiert und mit welchem wir der Welt begegnen. In bestimmten Schulen wird dabei die These vertreten, dass dieses wahre Selbst unzerstörbar sei und somit immer erhalten bleibe.
Der Unterschied zum Begriff der “Seele”
Ob man an ein höheres Selbst glaubt, muss, ähnlich wie bei der Frage nach der Seele, jeder für sich selbst beantworten. Für mich gibt es hier jedoch einen deutlichen Unterschied hinsichtlich dessen, was beide Begriffe mit uns machen.
Der Begriff Seele hat für mich eine etwas andere “Geschmacksrichtung” und ist eher neutral. Die Vorstellung davon, dass jeder Mensch eine Seele hat, die in ihm wohnt und im Todesfall entweicht und weiterzieht, kann ich so annehmen – ganz gleich, ob ich daran glaube oder nicht. Anders ist es aber beim wahren Selbst. Hier steckt in dem Begriff schon eine gewisse Aufforderung mit drin – nämlich, dass das wahre Selbst etwas ist, das es zu erreichen gilt, um Antworten zu finden auf die Probleme unserer Tage.
Die Erlangung des höheren Selbst als Ziel?
Mit dieser Vorstellung vom wahren Selbst habe ich Probleme, denn wer sagt mir denn, dass ich bei meinem wahren Selbst angekommen bin?
Wenn mir jemand sagt, er wollte mehr er selbst sein und so bei seinem wahren Selbst ankommen, dann klingt das für mich problematisch. Es klingt so, als wäre das Erreichen des höheren Selbst ein Ziel, an das zu gelangen es gilt und anschließend hat man es geschafft und wird für immer dortbleiben.
Hier möchte ich jetzt meine Erfahrungen weitergeben und sagen: Dieses Ziel gibt es nicht. Gewiss hat man zwischenzeitlich Momente, in denen man sich “angekommen” fühlt, doch ein paar Monate später kommt ein neues Thema oder ein neues Problem, die dann offenlegen, dass doch noch etwas in einem eingeschlossen war, das sich jetzt erst zeigt. – Und das ist ganz normal und in Ordnung!
Dynamik gehört zum Leben: Die Idee des höheren Selbst ist zu statisch
Nach meiner Auffassung ist die Idee, dass es ein wahres Selbst gibt, sehr statisch. Und ich sehe es als sinnvoll an, sich von jeder Art von Statik in Bezug auf sich selbst zu verabschieden. Es ist doch schließlich so: Man bewegt sich dynamisch durch das Leben, wächst stetig, verändert sich.
Niemand auf der Welt kann beurteilen, ob jemand anderes in seinem wahren Selbst angekommen ist. Und, und das scheint fast noch wichtiger: Wir können es auch selbst nicht über uns sagen, weil wir heute nicht wissen können, wie wir in 10 Jahren sein werden.
“Das höhere Selbst” und Trauma
Ich persönlich benutze den Begriff des höheren Selbst deshalb in meiner Arbeit nicht. Ich glaube außerdem auch nicht, dass das Selbst unzerstörbar ist. Denn es gibt einfach Dinge und Erlebnisse, die uns zersplittern lassen, die uns psychisch zugrunde richten können. Und es gehört zur Wahrheit dazu, dass es Menschen gibt, die vor dem Hintergrund ihrer Erlebnisse und ihrer persönlichen Geschichte keine Ahnung haben, wer sie selbst überhaupt sein könnten. Menschen, die an ihrem Alltag scheitern und sich nicht lebensfähig fühlen.
Diesen Menschen entgegnet die Theorie vom wahren Selbst bis zuletzt, dass ihre Gefühle und ihre täglichen Kämpfe nicht real sind, weil das wahre Selbst ja unzerstörbar ist. Für mich, fühlt sich das beinahe zynisch an.
Frage dich selbst: Wie möchte ich mit dem Begriff des wahren Selbst umgehen?
Mit diesem Text und meinem Video möchte ich dich einladen, mit dir selbst in die Diskussion zu gehen, wie du mit dem Begriff des wahren Selbst umgehen möchtest und was er für dich bedeutet. Wichtig ist dabei auch, dass du dich fragst, ob dich diese Thematik vielleicht auch unter Druck setzt, weil du unbedingt das Ziel des wahren oder höheren Selbst erreichen möchtest, weil du komplett heil oder echt und wahr werden möchtest. Rufe dir ins Gedächtnis, dass niemand, auch nicht du selbst, eine Beurteilung vornehmen kann, ob das wahre Selbst erreicht ist.
Wenn du dich für weitere Videos oder Beiträge von mir interessierst, empfehle ich dir folgende:
- Das Dramadreieck
- Scham – Bedeutung für deine Entwicklung
- Selbstverletzendes Verhalten