Der größte Verrat

Dieser Text ist ein Herzenstext für mich, weil ich das Thema so unendlich wichtig für uns alle finde und für unseren Umgang miteinander.
In diesem Text geht es auch um Sexualität und das Thema ist: Ab wann ist ein Übergriff ein Übergriff? Es gibt keine literarischen Beschreibungen von Übergriffen im Text, aber bitte überlege dir, ob du den Text lesen möchtest.

Nähe und Vertrauen

Sexualität ist etwas, das normalerweise sehr privat gelebt wird. Für die meisten von uns ist es ein Akt des Vertrauens. Wir vertrauen uns einem Menschen sehr nah, sehr intim, sehr nackt (im wahrsten Sinne des Wortes) an. Wir machen uns sehr verletzlich.
Sexualität kann sehr unterschiedlich gelebt werden und damit meine ich nicht nur, ob man hetero, lesbisch oder schwul ist. Der echte Unterschied liegt eher darin, wie man Sexualität lebt.

  • Ist sie intim, nah und verbunden?
  • Oder geht es nur um Lust und Befriedigung?
  • Geht es um Macht, Kontrolle und Dominanz oder um Verletzlichkeit und Hingabe.

Alles kann seinen Platz haben und alles kann in Ordnung sein. Kann, muss aber nicht.

Seitdem ich mich mit Trauma beschäftige, beschäftige ich mich auch mit sexuellen Übergriffen jeder Form. Eigentlich ist es sogar umgekehrt – zuerst habe ich mich mit sexuellen Übergriffen beschäftigt und später habe ich dann das Wort „Trauma“ dazu assoziiert.

Ab wann ist es übergriffig?

Eine Frage, die mich immer beschäftigt hat und die m.E. auch heute noch viel zu wenig Raum einnimmt in Gesprächen zwischen Partnern oder mit FreundInnen, ist: „Ab wann ist Sexualität ein Übergriff oder übergriffig?“
Ich möchte mich mit diesem Artikel dem Thema nähern und diese Frage untersuchen. Ich weiß, dass sehr viele LeserInnen schon bei dem Wort „Übergriff“ nur Gedanken an Vergewaltigungen von Fremden im Kopf haben und sich von dem Wort und seinen Implikationen distanzieren. Dies ist eine innere Schutzmaßnahme, die ich gut verstehe und aus vielen Seminaren kenne. Es hilft dabei, sich von unserem eigenen Schmerz und auch unserer Angst zu distanzieren: „So etwas ist mir noch nicht passiert.“ „So schlimm war das doch nicht.“
Bei näherer Betrachtung jedoch kennt fast jede Frau (und viel mehr Männer, als sie es sich eingestehen mögen) das Gefühl von Übergriffigkeit!

  • Ist es die unerwünschte Hand auf meinem Bein?
  • Ist es mein „Nachgeben“, wenn mein Partner/meine Partnerin nörgelt und quengelt, Sex zu haben, obwohl ich selbst keine Lust habe?
  • Ist es, wenn ich nachts davon aufwache, dass mein Partner/meine Partnerin mich sexuell berührt?
  • Ist es, wenn mich jemand von Kopf bis Fuß anschaut auf eine Weise, die ich unangemessen finde?
  • Ist es, wenn ich während des Sex innerlich aussteige und mein Partner/meine Partnerin kein Interesse daran hat, dies zu merken?
  • Ist es, wenn ich mit jemandem „rummache“ und dann nicht mehr weitermachen möchte, aber die andere Person dies einfordert?

Sexuelle Energie macht etwas mit uns

Ich möchte in diesem Artikel nicht auf strafrechtliche Übergriffe und Hintergründe eingehen, sondern auf die Zwischenbereiche und Grautöne, die wir fast alle kennen. Ich möchte die emotionalen und psychologischen Hintergründe beleuchten und was solche „übergrifflichen Begegnungen“ für Auswirkungen haben. Es gibt nicht vieles, wo wir so viele Annahmen, Bilder und Erwartungen haben wie im Bereich Sexualität, die wir nicht überprüfen.
Vor 25 Jahren habe ich meine Diplomarbeit zum Thema Sexualisierte Gewalt geschrieben. Sind wir heute weiter in der öffentlichen Diskussion – kaum.
Sind wir heute weiter in der privaten Diskussion – kaum.

Damit wir die Auswirkungen von diesen vielen scheinbar nicht so schlimmen Übergriffen wirklich verstehen, müssen wir uns genauer anschauen, was dabei wirklich geschieht.
Dazu ist es wichtig, sich verschiedene Aspekte von sexueller Energie und dem Umgang damit anzuschauen. Sexuelle Energie ist eine sehr archaische Energie, die sehr vital und mächtig ist. Sie kann unterschiedliche Ausprägungen haben und Menschen gehen sehr unterschiedlich mit dieser Energie um.
Sie kann direkt und plump sein, versteckt oder verspielt, zart oder vieles mehr. Fakt ist jedoch, wenn man diese Energie auf jemanden richtet, dann macht es etwas mit der anderen Person. Ich spreche hier zunächst einfach nur von der Energie, nicht von einer Handlung.

Wenn sich die Energie im Raum verändert

Fast jede Frau kennt es, mit einem Mann in einem Raum zu sitzen und ein merkwürdiges Gefühl zu bekommen. Irgendetwas scheint sich in den Raum zu schleichen und die Atmosphäre merkwürdig bis unangenehm zu verändern (ich gehe jetzt hier davon aus, dass man selbst nicht interessiert ist). Man fängt an, sich unwohl zu fühlen, und oft kann man den Finger nicht darauf legen, was los ist.
In Partnerschaften kennt sicher jede und jeder das Phänomen zu wissen, wann der Partner oder die Partnerin etwas „will“. Es ist womöglich nur eine atmosphärische Veränderung, die dennoch in klaren Worten spricht: Ich will mit dir ins Bett!

Was passiert in uns, wenn wir keine sexuellen Interessen haben – entweder in diesem Augenblick nicht oder grundsätzlich nicht an der Person?
Sexuelle Energie ist sehr unangenehm, wenn ich selbst in einer anderen Stimmung bin und gerade nichts damit anfangen kann oder will. Diese Energie kann uns – und ich spreche immer noch nur von der Energie – überwältigen, weil sie so groß und roh ist. Wir können nicht mit ihr umgehen und die Person, die sie auf uns richtet, hat die Verantwortung mit ihrer eigenen Energie so umzugehen, dass sie sieht, ob es für das Gegenüber in Ordnung ist.
An dieser Stelle fängt für mich bereits ein Übergriff an.
An der Stelle, an der ein Mensch nicht die volle Verantwortung für diese Energie übernimmt und nicht daran interessiert ist zu schauen, was es mit der anderen Person macht.
Oder sich womöglich noch lustig macht.
Oder die Energie noch forciert.

Doch, es ist etwas passiert!

Es gibt zahlreiche Experimente, in denen getestet wird, wie Gefühle von anderen Menschen uns beeinflussen. Selbst wenn diese nicht auf uns gerichtet werden, sondern einfach „nur“ von einer anderen Person gezeigt werden. Das Ergebnis sollte niemanden wundern. Es beeinflusst uns massiv und wir gehen danach anders in die Welt.
Gerade sexuelle Energie, die auf jemanden gerichtet wird, der diese nicht möchte, führt zu einer Objektivierung der Person. Dieser Mensch wird zum Objekt, denn es geht nicht mehr um eine gleichberechtigte Interaktion, es geht nicht mehr um Kontakt oder Verbindung.
Es ist demjenigen oder derjenigen egal, wie sich die andere Person fühlt. Letztlich geht es in diesem Moment nicht mehr um Sexualität, sondern um die Ausübung von Macht. Sexualität bzw. sexuelle Energie ist lediglich das Machtmittel.

Diese Energie auf Kinder zu richten ist besonders verheerend. Ich möchte hier nicht ausführlich auf sexualisierte Gewalt (ja, es ist immer Gewalt) mit Kindern eingehen. Da ich aber immer wieder von Frauen diesen einen Satz höre: „Er hat doch eigentlich gar nichts gemacht“ oder „es ist doch eigentlich gar nicht wirklich etwas passiert“, möchte ich kurz darauf eingehen.
Für Kinder ist sexuelle Energie weder einschätzbar noch verdaubar. Sie werden alleine durch diese Energie, die auf sie gerichtet wird, bereits überwältigt und es liegt ein Übergriff vor. Sie wissen nicht, was da passiert, und sie können nicht damit umgehen. Erfahren Kinder diese Art von Übergriffigkeit, so hat dies Folgen für ihr Erleben von sich selbst und ihre Sicht auf die Welt. Vor allem, weil sie sich meist später als erwachsene Menschen an all ihren Problemen selbst die Schuld geben, „da ja gar nichts passiert ist“. Meine Antwort ist: „Doch, es ist ganz viel passiert!“
Leider wird diese Art von sexueller Übergriffigkeit sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen weitgehend negiert oder banalisiert. Dadurch entsteht eine tiefe Einsamkeit, da man nirgendwo mit dem Schmerz, der Angst und Hilflosigkeit hingehen konnte und kann.
Sexuelle Übergriffe sind der größte Verrat an unserer Liebe, unserer Verletzlichkeit und unserer Seele. Egal, wie alt wir dabei sind.

Gehört mein Körper wirklich mir?

Leider lernen wir oft schon als Kinder auf vielfältige Arten und Weisen, dass es nicht wichtig ist, wie wir uns fühlen. Sei es, dass Eltern sich nicht einfühlen können, sei es, dass Eltern ihr Kind als Besitz sehen oder als Erweiterung ihrer Selbst ohne eigene Gefühle, sei es, dass Eltern keine Zeit haben oder selbst gelernt haben, sich dem Willen anderer unterzuordnen.
Niemand wird häufiger ungefragt in unserer Gesellschaft angefasst als Kinder. Dann folgen Frauen, Behinderte und alte Menschen. Lass dich das einfach mal in Ruhe beobachten und du wirst es immer und immer wieder sehen.
Wir lernen so von klein auf, dass unsere Grenzen nicht so wichtig sind und dass unser Körper nicht wirklich uns gehört. Kommen dazu noch sexuelle Übergriffe jeglicher Art, so verändert sich unser Selbstverständnis von Grund auf und führt dazu, dass wir auch als Erwachsene einen sehr eingeschränkten Begriff von (sexueller) Autonomie und Grenzen haben. Wir erleben uns selbst dann häufig als Objekt, das ihr/sein Leben eher erfährt und nicht als handelndes und bestimmendes Subjekt, das ihr/sein Leben gestaltet.

Frage dich einmal: Welches Recht hat dein Partner oder deine Partnerin von dir eingeräumt bekommen, dich zu berühren? Wie weit geht dieses Recht? Hattest du schon einmal Sex, obwohl du keine Lust hattest?
Ich möchte, dass du diese Fragen wirklich ehrlich beantwortest, also danach, wie du das in deinem Alltag lebst und nicht, welche Überzeugungen du hast. Leider gehen an dieser Stelle die eigenen Überzeugungen oft weit zu dem tatsächlich gelebten Umgang auseinander.

Jede Berührung muss verhandelt werden!

Wollen wir einen Menschen umarmen, dann verhandeln wir meist nonverbal, ob wir dies dürfen. Sicher hast du auch schon erlebt, wenn jemand dies nicht verhandelt, sondern dich einfach in den Arm nimmt. Das ist oft sehr unangenehm. Auch, wenn jemand die Umarmung länger hält als du es willst. Diese Person lauscht nicht auf die subtilen Hinweise, wann es genug ist. Sie hält die Berührung so lange aufrecht, wie sie dies will. Ist dies schon ein Übergriff?

Die nonverbale Verhandlung läuft meist über Blickkontakt und Körpersprache. Ich schaue jemanden an und deute eine Umarmung an. Dann schaue ich, wie mein Gegenüber reagiert.
Entweder umarme ich dann (dabei achte ich natürlich darauf, was mir die andere Person anbietet) oder ich verzichte eben auf die Umarmung. Beides sollte in Ordnung sein. Berührung sollte nie forciert oder „erzwungen“ sein.

Liebesentzug ist eine Form von Zwang

Zwang fängt für mich sehr früh an. Zwang wird es, wenn es nicht ok ist, wenn ich etwas nicht möchte und ich z.B. mit Liebesentzug dafür „bestraft“ werde. Zwang mag ein starkes Wort dafür sein, aber leider funktioniert diese Sanktion so gut, dass Menschen sich tatsächlich innerlich gezwungen fühlen Berührung oder sogar Sex zuzulassen, um keinen Liebesentzug zu bekommen. Ich möchte behaupten, dass es das Mittel Nr. 1 ist, das in Partnerschaften angewendet wird, um Sex zu bekommen, wenn der/die PartnerIn nicht möchte.
Wenn es einer Person egal ist aus welchem Motiv die andere Person auf einen sexuellen Kontakt eingeht und oder sie Liebesentzug anwendet, ist das dann ein Übergriff? Das perfide dabei ist, dass man selbst dann das Gefühl hat, ja eingewilligt zu haben und demnach selbst „Schuld“ zu sein.

Berührung und Nähe, Kuscheln und Schmusen (sagt man das heute noch?) sind wichtige Bestandteile von Beziehungen. Die meisten von uns wollen und brauchen immer wieder liebevolle Berührungen oder wollen mal im Arm gehalten werden. In dieser Nähe können wir loslassen und Stress abbauen. Für viele Frauen bedeutet dies jedoch, dass sie in Alarmposition sind, weil sie wissen, dass für ihre Partner diese Zärtlichkeit sehr schnell in sexuelles Begehren umschlägt. In vielen Partnerschaften ist es kaum möglich einmal eine Stunde einfach nur im Arm voneinander zu liegen und zu entspannen. Ohne dass Sexualität ins Spiel kommt. Wir brauchen Begegnungsräume, die frei von sexueller Energie sind, damit wir uns entspannen können. Interessanterweise wird Sexualität dadurch besser, weil vertrauensvoller und intimer.

Intimität ist keine Aufforderung

Intimität muss nichts mit Sexualität oder Erotik zu tun haben. Intimität ist eine sehr nahe Begegnung, in der sich Menschen einander zeigen und sich öffnen. Es ist ein Raum, in dem Verletzlichkeit und Berührbarkeit zugelassen werden können.
Intimität hat viel mit Vertrauen zu tun. Ein Vertrauen, dass dieser Raum ungefährlich ist, dass ich sein kann, dass ich mich öffnen kann. Heutzutage verwechseln dies viele Menschen mit einer Einladung zu Sexualität. Das kann so sein, muss aber nicht so sein.

Werden wir berührt und wir mögen die Berührung, dann sind wir sehr verletzlich. Deswegen ist es wichtig, dass die Intention einer Berührung klar ist und auch klar kommuniziert wird. Dies muss nicht immer verbal sein, auch Hände können fragen, ob ein Wechsel in der Energie gewünscht ist. Es ist möglich darauf zu lauschen, wie jemand reagiert und wenn man unsicher ist, kann man fragen.

Die Sache mit dem Stopp sagen

Die Verantwortung für Berührung liegt immer bei beiden Beteiligten.
Leider ist es aber so, dass Menschen mit der Vorerfahrung von sexualisierter Gewalt und Übergriffen oft nicht gut sagen können, wenn etwas zu viel wird. Manchmal erstarren sie einfach und es wirkt als wäre es ein JA, ist aber kein Ja, sondern eine Dissoziation. Sie sind gar nicht mehr beteiligt und nicht mehr wirklich anwesend. Wenn du schon jemals deine Einkaufsliste beim Sex zusammengestellt hast, dann weißt du, was ich meine.
Eigentlich muss man, sobald man innerlich abschweift, „Stopp“ sagen. Das kann am Anfang sehr frustrierend sein, aber wenn man eine Geschichte mit sexueller Gewalt hat und sich die eigene Sexualität wieder aneignen möchte, dann muss man den Partner oder die Partnerin beteiligen und Wege finden, wie man sich in kleinen Schritten wieder die eigene Sexualität zurück holt. Das wird auch zu vielen Tränen führen und alte Schmerzen werden sich wieder zeigen, aber es lohnt sich. Am Ende werdet ihr erleben, wie schön gemeinsam gelebte Intimität sein und wieviel Facetten Lust haben kann. Wichtig dabei ist, dass ihr ein Team seid. Lasst euch gegenseitig nicht außen vor und redet, redet viel miteinander – auch während und beim Sex.

Das perfide an vielen sexuellen Übergriffen oder sexuellem Missbrauch (ich mag das Wort ja nicht so wirklich) ist, dass meist keine Gewalt in dem Sinne verwendet wird, wie wir normalerweise Gewalt definieren. Aus diesem Grund fällt es uns so unglaublich schwer, das was wir erlebt haben als Übergriff zu bezeichnen.

Am Anfang kann es schön gewesen sein

Bei Übergriffen an Kindern ist es sogar oft so, dass die Täter oder Täterinnen das Kind in seinen Bedürfnissen abholen. Sie geben dem Kind Aufmerksamkeit, sie streicheln das Kind. Und das Kind genießt dies. Das ist auch vollkommen in Ordnung.
Irgendwann verändert sich dann die Energie und in dem Augenblick wird aus Zuwendung ein Übergriff. Der Übergriff beginnt in dem Moment, in dem die Energie sexualisiert wird. Punkt. Dafür muss noch kein Handgriff anders sein.
Dies gilt für Kinder und dies gilt für Erwachsene.

Da wir alle einen anderen Gewaltbegriff im Kopf haben, ist es schwer diese Erlebnisse als das zu bezeichnen, was sie sind: Übergriffe. Dadurch fühlen sich Menschen oft ein Leben lang schuldig und schämen sich ihrer selbst. Die Scham darüber, die Aufmerksamkeit und die Streicheleinheiten zunächst genossen zu haben, kann ein Leben zerstören.
Manche Kinder oder auch erwachsene Menschen haben Lustgefühle während eines Übergriffs. Das ist eine psychologische Katastrophe, weil dies als extremer Verrat vom eigenen Körper wahrgenommen wird. Es ist aber „einfach“ Biologie. Leider kann es sein, dass unser Körper auf Berührung reagiert, obwohl wir dies nicht wollen. Das hat nichts damit zu tun, dass wir den Übergriff wollten!
Die Verantwortung und die Schuld liegt beim Täter und nicht beim Opfer – und das immer!

Die meisten Übergriffe auf erwachsene Frauen finden im persönlichen Nahbereich statt und beinhalten eben auch meist keine „klassische Gewalt“. Sie können ebenso mit einer „guten“ Berührung beginnen, die dann umschlägt in etwas, das nicht mehr in Ordnung ist.
Unglaublich viele Übergriffe finden im Schlaf von Opfern statt. Ein Kumpel, bei dem eine Frau übernachtet und der sie vergewaltigt (und ja, das ist eine Vergewaltigung), während sie schläft. Oder ein Beziehungspartner, der seine Partnerin vergewaltigt (ja, auch das ist eine Vergewaltigung), während sie schläft.
Sexualität, die ohne echten Konsens stattfindet, ist Gewalt. Egal von wem und egal wie.

Sexualität, die wir nicht wirklich wollen, führt dazu, dass wir unseren Körper und uns hassen. Sie führt dazu, dass wir uns in unserem eigenen Körper fremd fühlen. Sie führt dazu, dass wir uns nirgendwo auf der Welt sicher fühlen. Sie führt dazu, dass wir aus unserer eigenen Mitte geworfen werden. Sie führt zu erlernter Hilflosigkeit, sie führt zu Dissoziation, Ohnmacht und Entfremdung.

Die Angst Täterin zu werden

Eine weitere Folge von sexuellen Gewalterfahrungen ist die unglaubliche Angst davor, selbst TäterIn zu werden. Dies führt dazu, dass Menschen ihrer eigenen sexuellen Energie zutiefst misstrauisch und ängstlich gegenüber sind. Sie trauen sich oft nicht zu begehren, weil sie dies schon als übergriffig empfinden.
Sie haben es ja selbst erlebt, dass diese Art von sexueller Energie sehr verletzend war.
Diese Angst vor dem eigenen Begehren macht viele Dinge sehr schwierig. Gerade in einer schönen und beidseitigen sexuellen Begegnung ist Begehren sehr wichtig und grundlegend. In einer Partnerschaft möchte man auch begehrt werden. Begehren ist an und für sich nichts Schlechtes oder Übergriffiges. Es geht lediglich darum, ob das Gegenüber dies möchte. Begehren ist eine Form von Neugier und „haben wollen“, die sehr viel Freude, Lust und Liebe in eine Beziehung bringen kann. Begehren muss weder plump, noch laut, noch aufdringlich sein. Begehren muss vor allem gehalten werden und kommuniziert werden, so dass die andere Person sagen kann, ob sie momentan begehrt werden möchte. In einer Partnerschaft sollte man auch voneinander lernen, wie dieser andere Mensch Begehren genießen kann. Wir sind da weder gleich noch müssen wir dies sein.

Begehren ist das Flirten mit der Welt

Grundsätzlich darfst du begehren. Es ist ein sehr wichtiges Gefühl, und Begehren geht weit über eine Beziehung oder einen anderen Menschen hinaus. Du kannst das Leben begehren und wollen und dich dem Leben hingeben lernen. Vielleicht ist dies die wichtigste Form des Begehrens und der Hingabe.
Hingabe ist noch so ein Begriff, der sehr oft falsch verstanden wird. Hingabe ist keine Selbstaufgabe oder Auslieferung. Es ist ein hochaktiver Prozess und kann unterbrochen werden, wenn etwas falsch läuft. Hingabe ist nur möglich, wenn man sich sicher mit einem Partner oder einer Partnerin fühlt. Wenn man Stress hat sich hinzugeben, sollte man sich immer fragen, ob man sich sicher fühlt. Dies muss nichts mit dem/der aktuellen PartnerIn zu tun haben, sondern kann auf die Vergangenheit hindeuten. Dennoch ist es wichtig, darüber zu sprechen und zu schauen, wie man mehr Sicherheit herstellen kann. Was kann dein Partner, deine Partnerin tun, damit du dich sicherer fühlst?

Sexualität sollte etwas Wunderschönes sein. Es sollte ein Ort der Hingabe, des Vertrauens, von Nähe und Intimität sein. Es kann auch ein Ort von Wildheit, Lust und Begehren sein. Sexualität hat viele Facetten und Ausdrucksmöglichkeiten und alle sind in Ordnung. So lange Menschen miteinander sprechen und sich auch während der Sexualität immer wieder versichern, dass die andere Person noch „da“ ist, man noch zusammen unterwegs ist und zusammen genießt. Sexualität ist keine Soloreise und je egozentrischer man dabei ist, desto weniger wird sich der Zauber erschließen.

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