Dissoziation ist ein sehr großes und umfassendes Thema, zu dem bereits viele Bücher geschrieben wurden. Grundsätzlich ist eine Dissoziation eine Abspaltung, die geschieht um die grundsätzliche Integrität der Psyche zu schützen. Dissoziative Phänomene treten in einem großen Spektrum auf. Das Ausblenden unangenehmer Gefühle ist bereits eine Form von Dissoziation, die vielen Menschen bekannt ist. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen schwere Krankheitsbilder, die mit Dissoziation einhergehen, wie z.B. Dissoziative Störung, dissoziative Identitätsstörung, Persönlichkeitsstörung, gespaltene Persönlichkeiten, multiple Persönlichkeit.
Heute geht es um einen ganz grundlegenden Aspekt zu dem ich oft befragt werde: Was ist eine Dissoziation und wie entsteht sie?
Dissoziation und Trauma-Symptome treten häufig in einem gemeinsamen Kontext auf als Reaktionen auf extreme Ereignisse und Erfahrungen, die sich bei Betroffenen in Dissoziationen und traumatischen Symptomen in der Psyche und im Körper niederschlagen.

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Was bedeutet Dissoziation? Psychologie des seelischen Überlebens
Eine Dissoziation – die Psychologie liefert hier die Kerndefinition – ist eine Abspaltung von mir selbst. Dabei spalten wir in einer Extrem-Situation meistens einen oder mehrere Teile von uns ab. Ein Gefühl oder mehrere etwa, die wir nicht aushalten konnten. Dieser unbewusste Vorgang dient dem Schutz unserer Psyche. Diese abgespaltenen Gefühle kommen dann in eine Art „inneren Keller“ und werden aus unserem Alltagsbewusstsein ausgelagert. Die Auslagerung traumatischer Ereignisse und Gefühle in solch einen abgeschlossenen Raum hat zur Folge, dass man irgendwie nach außen funktioniert, aber psychisch ein permanenter Ausnahmezustand vorherrscht. Dissoziation und Trauma-Symptome gehören in vielen Fällen zusammen. Leider bedeutet eine Abspaltung und das Funktionieren im Alltag nicht, dass der Alltag unbehelligt von Erinnerungen an die Erlebnisse, Situationen und Gefühle einfach weiter geht, als wäre nichts gewesen.
Jeder Mensch dissoziiert
Es gibt kaum Menschen, die nicht an irgendeiner Stelle oder auf irgendeine Art und Weise in ihrem Leben mal dissoziativ sind, was in alltäglichen Situationen meist in harmloseren Formen auftritt und keine Symptomatik beinhaltet, die in einer Therapie behandlungsbedarf hat. Um dissoziative Vorgänge zunächst mit weiteren Alltags-Beispiel (ergänzend zum Video) zu veranschaulichen:
- alltägliche Abläufe, sich wiederholende Routinen, die man nicht mehr bewusst ausführt (Zähne putzen, Augen zusammenkneifen beim Lesen).
- Dinge die man getan hat, ohne sich konkret daran zu erinnern (ist die Kaffeemaschine an oder aus? Auto abgeschlossen oder noch offen?).
- Langweilige oder anstrengende Tätigkeiten, die man mit Absicht nicht permanent bewusst erlebt und abschaltet (lange Autofahrten, lange schlechte Vorträge).
- Straßenlärm vor der Haustür oder am Arbeitsplatz, die Lautstärke um uns herum wenn wir in einem Café sitzen, die uns irgendwann plötzlich wieder auffällt.
- Chronische Schmerzen oder ein dauerhafter Tinnitus, die eine Weile nicht im Bewusstsein auftauchen, kurzzeitig vergessen werden, bis man sie doch schlagartig wieder bewusst spürt.
Wir dissoziieren also, in dem wir Dinge nicht mehr bewusst wahrnehmen, sie ausblenden oder in einer Art Trance über uns ergehen lassen. Die Wahrnehmung ist in dem Moment nicht mit dem Bewusstsein gekoppelt. Die psychische Dimension der eingeschränkten Wahrnehmung ist hier in der Regel kein pathologisches Problem. Denn wir können steuern und entscheiden, wann und welche Dinge wir wieder bewusst fokussieren oder welche Dinge wir ausblenden.
Im Falle einer Traumatisierung, wenn wir Überwältigung erfahren von Gewalt, Verlustangst oder anderem psychischen Extrem-Stress, gibt es den Moment, wo es zu einer „Systemabschaltung“ kommen kann. Wenn alles zu viel, zu schnell, zu grauenerregend ist, schalten wir ab. In dem Augenblick gibt es so etwas wie einen Filmriss. Das System geht aus der totalen Übererregung, aus dem Kampf-und Fluchtmodus, in den Shut-Down. Dieser Erstarrungszustand ist hoch korreliert mit späterer Dissoziation.
Dissoziationen treten also häufig in einem gemeinsamen Kontext mit Trauma auf als Reaktionen auf extreme Erfahrungen. Wir dissoziieren zwar Gefühle, die nicht zu ertragen sind, trotzdem bleiben diese Gefühle und die Erinnerung aber noch vorhanden und können uns jederzeit einholen.
Eine dissoziative Störung kann sich im Extremfall auch in Form einer dissoziativen Identitätsstörung mit multiplen Persönlichkeiten äußern. Erlebnisse von Gewalt, Angst, Verlust oder durch andere psychische Stress-Zustände kommt ein innerer Mechanismus in Bewegung, der in eine komplette Bündelung und Abspaltung der geballten Gefühlslage in eine zusätzliche Persönlichkeit münden kann. Die Kern-Identität bleibt bei einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung existent. Aber es entsteht ein eigenständiger Anteil in Form einer zusätzlichen Persönlichkeit. Ein Mensch hat nun multiple Persönlichkeiten mit eigenständigen Gefühlswelten, Erinnerungen und Geschichten und damit auch mit eigener Identität.
Eine weitere Form der Dissoziation ist die Amnesie. Sie bedeutet, garkeinen Zugang mehr zur Erinnerung zu haben.
Dissoziation ermöglicht Funktion trotz traumatischer Erlebnisse
Wir funktionieren also weiter. Das ist auch wichtig, denn ohne Funktion kann ein Mensch seinen Alltag nicht mehr bewältigen. Es entsteht eine ANP – Anscheinend Normale Persönlichkeit– die einfach weiter funktioniert, bei der die Emotionen aber abgespalten sind. Schaffen wir es nicht, als Betroffene psychisch an der Oberfläche zu funktionieren, landen wir vielleicht in der Psychiatrie oder werden „verhaltensauffällig“, weil wir uns nicht mehr an die Umstände anpassen können, in denen wir uns gerade bewegen. Traumatisierungen führen dazu, dass wir unflexibler und weniger adaptiv in unseren Reaktionsmöglichkeiten werden.
Dissoziation heißt nicht, in Erstarrung zu sein oder Ohnmächtig zu sein, obwohl das bei manchen Menschen auch passieren kann. Im Grunde heißt es, dass du durch dein Leben läufst, dich dabei aber nicht spürst. Das Problem ist, dass wenn man wieder Zugang zu den Gefühlen spüren möchte, nicht nur die positiven hochkommen, die alles angenehmer und lebendiger machen. Es kommen auch – und leider meist als erstes – all die anderen Gefühle, die man in den Keller gesperrt hat an die Oberfläche, die auch wieder „Hallo!“ sagen wollen.
Ein dissoziativer Zustand kann hochfunktional sein. Menschen sind teilweise super leistungsfähig. Sie fühlen sich aber nicht. Dann brechen sie oft später an irgendwelchen Punkten zusammen. Meist gibt es früher oder später Auslöser, welche die verdrängten und abgespaltenen Gefühle zum Vorschein kommen lässt. Plötzlich ist man konfrontiert mit überwältigenden Gefühlen, die man nicht mehr reguliert bekommt. Die damit zusammenhängenden Zustände können unerträglich sein.
Es kann aber auch sein, dass die Integration der dissoziativen Störung in das Funktionieren dauerhaft ohne einen Aktut-Zusammenbruch läuft. Doch dann wirken das verlorene “Sich Fühlen” und die Symptome des Traumas zum Beispiel in alltäglichen Handlungen und zwischenmenschlichen Beziehungen: Beziehungen funktionieren nicht, weil plötzlich fühlen gefragt ist.
Entweder Alles oder Nichts
Wer betroffen ist und etwas schlimmes erlebt, will meist erstmal vergessen. Leider können wir uns im Fall von Dissoziation und Traumatisierungen nicht gänzlich aussuchen was wir erinnern und fühlen. Entweder bin ich weg von meinen Gefühl, als Schutzmechanismus – oder ich bin da und werde mit allen Gefühlen, die man fühlen kann, konfrontiert. Dann haben viele Menschen den Eindruck, sie werden überschwemmt von ihren Gefühlen und drohen darin zu ertrinken. Wenn ich mich dann wieder hoch kämpfe, wie ein Boxer im Ring, wieder in den Funktionsmodus gehe, spalte ich erneut meine Gefühle ab und das Dilemma fängt von vorne an.
Das funktionale Ich darf keinesfalls verwechselt werden mit einem gesunden Ich. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Als „gesund“ bezeichne ich, wer Zugang zu angenehmen und unangenehmen Gefühlen hat, sich in seinem Körper spüren kann und Emotionen und Gefühle regulieren kann.
Posttraumatische Belastungsstörung (Ptbs), Dissoziation und Möglichkeiten der Behandlung
Eine Posttraumatische Belastungsstörung – kurz Ptbs – und Dissoziation machen sich in einem Wechselspiel bemerkbar:
Bei der PTBS handelt es sich um verschieden ausgeprägte Reaktion auf ein traumatisches Ereignis. Zu den definierten Symptomen der Störung zählen etwa Flashbacks, Albträume, Übererregung oder Vermeidung. Im dissoziativen Zustand liegt die totale Vermeidung, die aber nicht aufrechterhalten werden kann und sich in den genannten Symptomen äußert.
Symptomatik erkennen
Menschen die mit traumatischen Erlebnissen und Erinnerungen konfrontiert sind, entwickeln viele seelische und körperliche Überlebensstrategien. Nur die Spitze des Eisbergs aller Betroffenen sind von klinischen Störungsbildern, wie zum Beispiel dissoziativen Störungen, Identitätsstörungen, Amnesien und Ptbs (Posttraumatische Belastungsstörungen) betroffen, die dann zu einem Teil ihres Lebens werden. Weit mehr Menschen leiden an weniger ausgeprägten und klar definierten Traumafolgestörungen, wie z.B. Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafprobleme, Beziehungprobleme, nicht vertrauen können u.v.m.
Übrigens: Wenn du etwas genauer erfahren möchtest wie ein Trauma deinen Schlaf beeinflusst, empfehle ich dir meinen Blogbeitrag zum Thema „Einschlafprobleme und ihre Ursachen“ durchzulesen.
Betroffene die eine Therapie nutzen möchten, verstehen oder sehen häufig ein Symptom oder einen Teil ihrer Symptome, manchmal sind es Impulse von Dritten, die sie dazu bewegen sich Unterstützung zu suchen. Ein weitere Problematik, die dann in einer Psychotherapie auftauchen kann, ist dass Therapeuten das Funktionale-Ich mit einem gesunden Ich verwechseln und damit einen falschen Ansatz für die Therapie wählen.
Es handelt sich um ein nie zu Ende erforschbares, psychologisches und körperliches Phänomen, dass hier nur oberflächlich, doch hoffentlich verständlich beleuchtet wurde. Wir wissen aber eines ganz genau über Dissoziation – Trauma ist ebenfalls ein zentraler Bestandteil, der sich in einer Traumatherapie verbessern sollte gilt. Grundsätzlich kann man sagen, dass Selbstregulation das Gegenteil von Dissoziation ist. Je besser du dich fühlen und regulieren kannst, desto weniger wirst du dissoziieren.
Ich hoffe, dies erklärt dir Dissoziation ein bisschen mehr.
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