Dissoziation und Erstarrung als Überlebensmechanismus
Dissoziation und Erstarrung – in wieweit hängen die beiden Begriffe zusammen und wie lange können die Phänomene eigentlich überhaupt anhalten?
Die Dissoziation ist ein Abspaltungsprozess, das heißt, dass ich intern etwas von etwas anderem abspalte. Vielleicht ist das ein bisschen schwierig zu verstehen, denn wie kann ich mich von mir selber abspalten?
Was passiert, wenn etwas schlimmer ist, als ich es aushalten kann?
Wir haben diese Funktion in uns, damit wir in der Lage sind Situationen, die wir erleben, aber nicht verlassen und emotional verdauen können, zu überleben. Zu dem gegebenen Zeitpunkt ist es uns nicht möglich, dieses Erlebnis zu integrieren – und hier kommt der Überlebensmechanismus ins Spiel.
Die Wahrscheinlichkeit, dass wir nach einem traumatischen Ereignis oder auch einem Entwicklungstrauma später in unserem Leben dissoziiert sind, ist deutlich erhöht, wenn wir während der Traumatisierung erstarrt sind.
Erstarrung als letzter Ausweg
In einer uns überwältigenden Situation haben wir die Möglichkeit zu kämpfen oder zu fliehen. Funktioniert beides nicht mehr, dann erstarren wir. Hier gibt es verschiedene Ebenen der Erstarrung:
- Es gibt die Erstarrung, wo in mir noch ganz viel Erregung ist und
- Es gibt die Erstarrung, wo ich quasi komplett aufgebe und mich eigentlich dem Tod oder dem Sterben hingebe.
Im letzten Fall ist wirklich keine Energie mehr im Körper, eine Möglichkeit ist zum Beispiel ohnmächtig zu werden. Wenn ich diese Form der Erstarrung erlebt habe und sie von meinem Körper ausgelöst wurde – und das hat mit meinem Kopf und meinem Verstand überhaupt nichts zu tun, sondern ist eine biologische Überlebensreaktion – dann habe ich eine hohe Wahrscheinlichkeit später dissoziative Phänomene zu erleben.
Man könnte sagen, dass Erstarrung und Dissoziation insofern zusammen hängen, in dem Erstarrung ein „Vorläufer“ von Dissoziaton ist.
Das Erlebnis kann hier vom Körper, der Psyche und dem Nervensystem nicht mehr verarbeitet und verdaut werden. Und die Rückkopplungsmechanismen vom Körper in die Psyche sind einfach sehr, sehr viel stärker als wir uns das meistens vorstellen oder glauben mögen.
Insofern: ja, Dissoziation und Erstarrung hängen zusammen.
Später reichen Kleinigkeiten, um den Reflex auszulösen…
Das Problem ist, dass später im Leben oft Kleinigkeiten genügen, um diesen Reflex, der es irgendwann ist, auszulösen. Der Körper hat gelernt „ich überlebe, indem ich erstarre“ und „ich überlebe, indem ich das einfach wegspalte“.
Das ist das eine. Das andere ist aber – und das kann nicht belegen, ich habe nur Kollegen, die dasselbe glauben – ich persönlich glaube, dass inzwischen ganz, ganz viele Menschen auch im Alltag dissoziiert sind.
Abgespaltene Gefühle und das Funktions-Ich
Eine Dissoziation ist etwas, was punktuell geschehen kann, zum Beispiel durch einen Trigger ausgelöst, und ist etwas, was auf einer bestimmten Ebene quasi immer vorhanden ist.
Wenn du Gefühle abgespalten hast, dann sind die abgespalten. Die kommen nur manchmal als Überwältigung hoch, dann kannst du sie wahrscheinlich nicht regulieren und irgendwann sind sie wieder weg und du bist wieder in deinem Funktions-Ich. Aber dieses Funktions-Ich ist quasi nicht wirklich du selbst, das heißt es bleiben Dinge abgespalten, die nicht integriert sind und so leben wir – wenn das der Fall ist – in einer dauerhaften Form der Dissoziation.
Dissoziation als Alltagsphänomen?
Wenn du dir anschaust, wie viel Menschen inzwischen in einem „Tunnel“ sind und dich oder andere Menschen gar nicht mehr wahrnehmen, dann kann man auf die Idee kommen, dass mittlerweile viele Menschen dissoziative Phänomene in ihrem Leben als Alltag und als normal wahrnehmen. Denn wenn etwas immer so ist und immer so war, fällt es uns sehr, sehr schwer Dissoziation wahrzunehmen, weil wir intern gar keinen Vergleich haben. Manche von uns merken, dass irgendwas nicht stimmt und manche haben eben Phänomene, wo die Gefühle dann hochkommen und sie überwältigen und sie wissen „ok, da ist irgendetwas“. Andere sind auch jahrelang in einer Funktion und in einer dauerhaften Dissoziation von Gefühlen oder Anteilen, die sie haben und „funktionieren“ damit. „Funktionieren“ ist für mich persönlich nicht lebendig sein, aber man funktioniert eben und kann in dieser Gesellschaft agieren und reagieren, es fehlt halt einfach nur ein Stück.
„Da ist noch was“ – habe den Mut es zu integrieren!
Das ist für mich der Zusammenhang zwischen Erstarrung, Trauma und Dissoziation.
Und ja, die Dauer kann lebenslang sein. Manchmal im Leben holt es uns ein, die Dissoziation bricht zusammen, die alten Emotionen kommen hoch oder wir erleben Symptome, die wir gar nicht zuordnen können und wissen nicht, wo sie herkommen.
Letztlich wollen uns unser Körper und unsere Psyche Bescheid geben: „da ist noch was!“ und es wäre gut, das zu integrieren.