Entwicklungstrauma ist die versteckte Epidemie unserer Zeit
Viele Menschen leiden unter den Folgen eines Entwicklungstrauma, ohne es zu wissen. Manche Traumaforscher nennen es die Mutter aller Krankheiten und Störungen.
Entwicklungstrauma und frühe Verletzungen
Heute möchte ich mit Ihnen über ein Thema sprechen, dass mich selbst sehr bewegt. Ich persönlich bin der Ansicht, dass noch zu wenig beachtet wird, welche Auswirkungen frühe Verletzungen auf das spätere Leben von Menschen haben.
Was immer noch mehr im Fokus steht, ist das sogenannte Schocktrauma. Fast alle Trauma-Ausbildungen, die auf dem Markt sind, behandeln diese Art von Trauma.
Schocktrauma
Schocktrauma wird als ein singuläres Ereignis im Leben definiert. Es ist vollkommen in sich abgeschlossen. Diese Ereignisse werden mit den verschiedenen Traumatherapien, körperorientierten, verhaltensorientierten oder auch mit EMDR bearbeitet.
Wenn der Begriff Trauma fällt, denken die Menschen an gravierende Situationen.
Man denkt an Gewalt, an sexualisierte Gewalt, an schwere Vernachlässigung und andere schwerwiegende Katastrophen, die Kindern angetan werden. Die kleinen anhaltenden Verletzungen in der frühen Kindheit finden bisher noch wenig Beachtung.
Entwicklungstrauma
Was bei der Betrachtung dessen, was ein Trauma ist, zu wenig im Focus steht, ist das Entwicklungstrauma.
Dem heutigen Wissenstand nach geht es nicht immer um gravierende oder gewalttätige Einflüsse. Entwicklungstrauma kann auch entstehen, wenn Menschen nicht genügend Bindung bekommen, sie sich zu wenig gesehen fühlen, sie schreien gelassen werden, es Bindungsunterbrechungen gibt, zum Beispiel Krankenhausaufenthalte. All diese Situationen, die eher im feineren zwischenmenschlichen Bereich liegen, aber eine gravierende Wirkung auf unser Leben haben, können zur Entstehung von Entwicklungstrauma beitragen.
Es gibt Autoren, die von einer verdeckten Epidemie sprechen. Dem würde ich mich vollkommen anschließen. Viele Auswirkungen, die wir heute sehen, sind Folgen von früheren kleineren Verletzungen: Menschen können kaum noch zu Ruhe kommen, nicht abzuschalten, im eigenen Körper zu landen, Schlaflosigkeit, Burnout. Mit diesen beschäftige ich mich in diesem Beitrag.
Die sogenannte Sekundärtraumatisierung, auf die ich hier nicht eingehen will, betrifft alle helfenden Berufe, z.B. Therapeuten, Ersthelfer, Polizisten etc., die nicht von dem ersten Trauma betroffen sind, aber die Auswirkung fühlen.
Erinnerung
Ich betrachte hier einen ganz frühen Bereich unseres Lebens, die ersten drei Jahre. Das Problem mit dieser Zeit ist, dass wir uns nicht erinnern können. Das biographische Gedächtnis eines Menschen beginnt sich erst mit 3-4 Jahren auszubilden.
Wir haben für die erste Zeit unseres Lebens keine innere Geschichte. Wir müssen uns auf die Erzählungen anderer verlassen. Manchmal haben wir ein Gefühl oder auch einzelne Bilder, die wir nicht in eine zeitliche Reihenfolge einordnen können. Das ist insofern ein Problem, da Menschen oft nur ernst nehmen, an was sie sich erinnern können.
Ich habe Klienten, die an sich scheitern, weil sie nicht greifen können, was mit ihnen passiert ist. Selbst wenn sie gehört haben, was sie in der frühen Kindheit erlebt haben, sie z.B. lange allein waren, ihre Mutter depressiv war oder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vorlag (man spricht von einer narzisstischen Mutter) oder andere Dinge, die darauf hindeuten, dass das Kind sehr wenig Aufmerksamkeit, Zuwendung und eine sogenannte eingestimmte Kommunikation bekommen hat. Da es keine wirkliche Erinnerung und Bilder gibt, bleibt das Ganze abstrakt und wenig fühlbar.
Letztendlich können wir nur im Rückblick auf diese Zeit Schlüsse ziehen, indem wir unser Beziehungsleben und unser Leben heute anschauen.
Jedes Säugetier ist darauf angewiesen, in die Familie aufgenommen zu werden, angenommen von der Bezugsperson. Das ist auch unsere größte Sehnsucht. Die Sehnsucht gesehen und gefühlt zu werden, dass sich jemand auf uns und unsere Bedürfnisse einstimmt. Wenn es nicht funktioniert, sind wir unglücklich.
Babys können keinen inneren Zustand selbst regulieren. Wir müssen ständig von außen, unseren Bezugspersonen, reguliert werden. Am Anfang können wir nicht einmal unseren Wach-Schlafrhythmus regulieren. Auch dabei müssen wir unterstützt werden.
Wenn Kinder nicht gefühlt, nicht gesehen werden oder die Mütter sich hilflos fühlen, Angst haben viel falsch zu machen, überträgt sich der Stress der Mutter auf das Kind. Als Babys sind wir sehr durchlässig. Wir fühlen alles, was unsere Bezugsperson fühlt.
Für das Kind entsteht eine merkwürdige Situation. Es möchte sich binden, aber gleichzeitig kommt von der Mutter ein unangenehmes Gefühl, was sich das Kind lieber zurückziehen lässt.
Dieser Stress hat eine gravierende Auswirkung auf das Nervensystem. Er beeinflusst den Lernprozess des Kindes sich selbst zu regulieren, sich selbst zu fühlen.
Wenn die Eltern noch der Doktrin anhängen, das Kind schreien zu lassen oder sie nicht im Bett der Eltern zu schlafen dürfen, werden sie viel allein gelassen. Das Kind beginnt zu protestieren, es beginnt zu schreien. Bewirkt das nichts, schreit es sich in Rage.
Wenn es diese Phase durchlebt hat, gibt es innerlich auf und wird still. Dies ist keine friedliche Stille, sondern eine resignative. Wenn das öfter geschieht, hat es deutliche Auswirkungen auf das Selbstbild des Kindes, ob es sich geliebt und gewollt fühlt und einen Platz in dieser Welt hat.
Problematisch ist die Annahme, Babys verhalten sich absichtlich so, z.B. um die Mutter zu ärgern. Das ist nicht der Fall. Babys können sich nicht selbst beruhigen. Dafür braucht es eine erwachsene Bezugsperson.
Bindung
Film „Still Face Experiment“
In diesem Film ist ein Kind zu sehen, dass ganz sicher gebunden ist. Die Interaktion zwischen Mutter und Kind ist eine sogenannte eingestimmte Kommunikation.
Wir sehen ein Experiment von Ed Tronic, das „Still Face Experiment“. Dafür hat er Mütter gebeten mit ihrem Kind zu kommunizieren, in einer eingestimmten Kommunikation zu sein, sich dann abzuwenden und mit steinernem Gesicht zurückzukommen, um herauszufinden, wie die Kinder reagieren.
Bis vor einigen Jahren hat man angenommen, Babys sind vollkommen passiv. Heute weiß man, auch anhand solcher Experimente, dass sie von sich aus hochgradig kommunikativ sind und Kommunikation selbst anstoßen.
Die Mutter und das Kind haben eine Verbindung, in der sie sich gemeinsam bewegen. Bei beiden geschehen großartige Dinge. Bei dem Kind wird das Wachstum von neurologischen Nervenbahnen hochgradig angeregt, vor allem im präfrontalen Cortex, dem Sitz der Persönlichkeit, wo später alle emotionalen Zustände reguliert werden.
Bei der Mutter wird das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet. Auch sie erfährt das Wachstum von neuen neurologischen Nervenbahnen. Das Baby ist hoch aktiv. Die Bindung geschieht viel durch Augenkontakt, Gestik und Mimik. Das wichtigste in der Kommunikation ist tatsächlich das mimische Antworten, die Offenheit in den Augen und die Zuwendung und nicht der sprachliche Inhalt, der in unserem Erwachsenenleben oft zu viel Betonung bekommt.
Woran man erkennt, dass das Kind sicher gebunden ist, ist nicht etwa, dass das Kind mit viel Stress reagiert, sondern es sich sehr schnell wieder beruhigen lässt, sich der Mutter zuwendet und wieder anfängt mit ihr in Kontakt zu treten und zu spielen.
So z.B. wird die Bindung von Kindern untersucht, wie sie reagieren, wenn die Mutter wieder zur Verfügung steht. Was man wunderbar in der Sequenz sehen konnte, ist wie stressig es für das Kind ist, keinen Kontakt zu bekommen, wie es anfängt zu arbeiten, um den Kontakt wieder herzustellen. Man sieht auch den ersten Ansatz einer, wenn das oft passiert, entstehenden Dissoziation. Das Kind dreht sich weg, weil es das steinerne Gesicht der Mutter nicht sehen will. Es kann sich nicht mehr regulieren und beginnt zu weinen.
Für manche Menschen war es der Normalzustand eine Mutter oder Bezugsperson zu haben, die für diese eingestimmte Kommunikation nicht zur Verfügung stand. Sie war mit sich selbst beschäftigt, hatte nicht genügend Zeit für das Baby. Manche Eltern haben in dieser Zeit gebaut.
In meiner Generation z. B. haben viele ihre erste traumatische Erfahrung erlebt, weil sie nach der Geburt sofort in ein anderes Zimmer gebracht worden sind, wo sie allein lagen ohne Ansprache, ohne Wärme, ohne Beziehung. Das hat natürlich eine Auswirkung auf die Wahrnehmung von der Welt und die Bindungsfähigkeit des Kindes.
Ebenso katastrophal sind bestimme Verhaltensweisen der Bezugspersonen, die gar nicht wahrgenommen werden, weil sie inzwischen normal sind. Mütter telefonieren oder sehen fern, während sie stillen, oder sind mit etwas anderem beschäftigt. Selten bekommen Kinder von Erwachsenen die volle Aufmerksamkeit. Diese ist nötig, um selbst in einen guten ausgeglichenen Zustand zu kommen, sich zu freuen, neugierig zu bleiben und das Leben auf eine gute Art und Weise zu lernen.
Unsichere Bindung entsteht also durch zu wenig Kontakt mit der Bezugsperson.
Aber auch zu viele Reize können zu einer Bindungsstörung führen. Manche Mütter z.B. merken nicht, wenn sie das Kind überreizen, sie überspielen es. Das Kind will sich wegdrehen, darf aber nicht. Es kann sich auch nicht mehr regulieren, weil es am oberen Ende seines Fassungsvermögen angekommen ist. Wenn sie es nicht bemerken oder diesen Punkt überspielen, ist das auf Dauer sehr stressig für das Kind und hinterlässt Folgen. Möglicherweise meidet das Kind als Erwachsene zu viele Reize und entwickelt eine geringe Stresstoleranz.
Prägung des Gehirns
Es gibt in unserem Gehirn einen schellen und einen langsamen Weg der Informationsverarbeitung. In den ersten drei Jahren können wir uns nicht bewusst an die Muster, die in dieser frühen Zeit entstanden sind, erinnern. Das heißt nicht, dass sie als Erinnerung nicht vorhanden sind.
Der Hypocampus ist schon ab dem 6. Schwangerschaftsmonat ausgebildet und sammelt Informationen. Wir werden von Informationen geprägt, die aus der Schwangerschaft im Bauch unserer Mutter stammen. Alle diese Informationen hinterlassen ein Muster, mit dem wir die Welt betrachten.
Das große Dilemma ist, wir selbst sehen nicht, dass wir diese Muster haben und auf die Welt anwenden. Je tiefer dieses Muster geprägt ist, desto schneller regieren wir. Wir sind uns nicht bewusst, dass wir hier auf eine alte Information reagieren und nicht auf die heutige Situation.
Für die Ausprägung des Präfontallappen ist es sehr wichtig in dieser frühen Zeit
genügend Zuwendung bekommen, sich gefühlt fühlen. In diesen Teil des Gehirns werden viele Fähigkeiten ausgebildet, die wir für unsere Leben brauchen, z.B. emotionale Regulation, Empathie, Körperwahrnehmung, die Pause zwischen Reiz und Reaktion und vieles mehr. Der Präfrontallappen wird erst seit den letzten zwanzig Jahren untersucht. Vorher hat er wenig Beachtung gefunden. Man dachte, da passiert nicht viel Bemerkenswertes.
Der Hirnstamm beinhaltet sehr viele Informationen die wir nicht bewusst haben, unsere gesamten Reflexe, den Umgang mit Sexualität, den Umgang mit Hunger usw..
Bei frühen Verletzungen oder gewalttätigen Erfahrungen werden dort Prägungen hinterlassen, die Reaktionen in unserem späteren Leben auslösen, die wir uns nicht erklären können.
Sympathische und parasympathische Amplitude des Nervensystems
Wir leben ständig in der Amplitude, in dieser Schwingung unseres Nervensystems. Den Rahmen bildet das „Window of Tolerance“. Die Schwingung aufwärts beinhaltet Neugier, Aufregung, Stress, Angst. Diese Zustände werden vom sympathischen Nervensystem gesteuert. Das parasympathische reguliert die Amplitude abwärts, wie Entspannung, Schlaf usw.. Den ganzen Tag schwingt das Nervensystem zwischen diesen Zuständen und bleibt innerhalb dieses Rahmens, der schon von der Geburt geprägt wird. Wenn die Geburt stressig war, kann dieser Rahmen sehr eng sein und sehr schwer zu erweitern.
Ein Teil einer guten Therapie möchte diesen Rahmen erweitern, so dass Menschen wieder mehr Raum haben, um glücklich zu sein, aber auch um mit Stress besser umgehen zu können.
Wie gehen wir später mit Bindung um?
Der sogenannte normale Ablauf ist, dass wir uns sicher mit einer Person fühlen. Wir lesen die Körpersprache, wir lernen jemanden kennen, wir verbringen Zeit miteinander. Es entsteht Nähe. Viele Menschen verlieben sich am Arbeitsplatz, weil sie die Person oft sehen. Nähe und Kontakt schafft die Voraussetzung für Bindung. Menschen, die keine guten Bindungserfahrungen haben, die unsichere Bindung oder auch Bindungsunterbrechungen erlebten, haben oft später im Leben mit Beziehungen das Problem, dass sie sich auf Personen einlassen, die nicht sicher sind. Man spricht in diesem Fall auch von einem Bindungstrauma. Oftmals stellen die betroffenen Personen das Problem erst fest, nachdem sie sich gebunden haben. Das Bedürfnis nach Bindung ist so groß, dass sie in die Bindung hineinspringen, dann erst Kontakt und Nähe herstellen und schließlich feststellen, die Person ist nicht sicher. Das führt zu dem Gefühl, nicht mit und nicht ohne die Person leben zu können. Man ist schon gebunden und jede Trennung ist außerordentlich schmerzlich. Das hat etwas mit der Prägung zu tun, die wir in diesen ersten drei Jahren gelernt haben.
Hier ist ein wunderschönes Bild über die Entstehung neuronaler Verbindungen. Jede dieser Prägung erzeugt in unserem Kopf neuronale Muster. Je häufiger ein Muster reagiert, diese Reize überträgt, desto stärker vernetzt sich der Teil und umso schwieriger ist es, diese Verbindung wieder aufzulösen.
Durch frühe Verletzung, den Mangel an Empathie und Einfühlung entsteht dieses grundlegende Gefühl von Einsamkeit, wenn unsere Eltern sich nicht auf uns einstellen können oder uns viel alleine lassen. Das „Window of Tolerance“ wird relativ schmal ausgeprägt und wir haben große Schwierigkeiten glücklich zu sein.
Glück ist viel schwer zu halten als Unglück. Glücksgefühle erzeugen viel mehr Erregung im Körper. Diese Erregung ist schwer zu halten, wenn dieses Fenster sehr schmal ist.
Die große Schwierigkeit ist, dass dieses Fenster nur größer werden kann, wenn wir uns sicher fühlen. In diesem sicheren Bereich kann eine optimale soziale Interaktion stattfinden, die uns wachsen lässt, ein Gefühl von Sicherheit etabliert und diesen Bereich ausweiten kann.
Wenn Reize für uns aber eine Übererregung (Hyperarousel) bedeuten, also die Nähe von Menschen einen Kampf-oder Fluchtmodus auslöst, ist es schwer etwas Neues zu lernen. Viele Menschen merken nicht, dass sie ständig in diesem Modus sind.
Ebenso schwierig ist es, wenn wir uns im Zustand der Untererregung (Hypoarousel) befinden, also erstarren oder uns totstellen, können wir nicht mehr auf das Angebot von Nähe reagieren.
Die Herausforderung mit uns selbst und unseren Klienten ist diesem Bereich, das „Window of Tolerance auszuweiten. Sobald mein Gegenüber Gefahr im Verzug sieht, ist nichts mehr zu machen. Die Person geht innerlich in den Kampfmodus, geht in Verteidigungsstellung, wird starr und das soziale Lernen ist in dem Moment ausgeschaltet. Diese Muster sind in diesem Augenblick vergleichbar mit einer Rutsche. Solange wir noch oben sitzen, können wir uns entscheiden herunter zu steigen, aber wenn wir erst mal rutschen, können wir nicht mehr aussteigen, uns nur selbst beobachten und beim nächsten Mal etwas anderes machen.
Amplitude eines traumatisierten Nervensystems
Auch diese Amplitude kennen Sie schon. Das Nervensystem von Kindern, die wenig Aufmerksamkeit, Liebe und Zuwendung bekommen haben, sieht genauso aus, wie das Nervensystem von Menschen, die Schocktraumata, wie Gewalterlebnisse, schwere Unfälle oder Stürze, Operationen erlitten haben.
Dies ist ein wichtiger Aspekt. Viele Menschen verstehen sich selbst nicht und suchen verzweifelt nach dem Grund für diese Unausgeglichenheit. Es braucht nicht so ein Schocktrauma, um uns aus der Bahn zu werfen. Es reichen auch schon die Erziehungsmethoden, die bis in die 70er Jahre völlig normal waren, um ein Nervensystem zu haben, das nicht sehr belastbar ist und wenig zur Ruhe und Entspannung kommen kann.
Wir alle sind empathische Spiegel für unsere Mitmenschen. Wenn wir in einem unausgeglichenen Zustand sind, wird dieser empathische Spiegel trüb.
Wir sind nicht mehr fähig zu sehen, wie jemand auf uns zugeht. Wir reagieren nur in der Überzeugung zu wissen, was jemand beabsichtigt, aber letztendlich liegen dieser Überzeugung unsere alten Bilder zu Grunde.
Das große Dilemma darin ist, dass wir unser Gegenüber dazu bekommen, dass er genau die Erwartungen erfüllt, die wir von Anfang an hatten. Ein Klassiker, den sicher viele kennen, ist, wir bekommen ein schönes Kompliment und reagieren darauf mit Abwertung oder Ablehnung. Für das Gegenüber ist das eine Ohrfeige. Wir wehren die Zuwendung ab. Wenn wir das zwanzig, dreißig Mal gemacht haben, bei manchen dauert es auch nicht so lange, wird unser Gegenüber darauf verzichten, uns etwas Schönes zu sagen. Dann stellen wir fest, der mag mich gar nicht mehr, der sagt mir gar nichts Nettes mehr. Das habe ich doch gewusst.
In Gruppen ist gut zu beobachten, dass Menschen sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, die sie selber überhaupt nicht bemerken. Die Gruppe beginnt aber zu reagieren und schließt die Person mehr und mehr aus. Von außen betrachtet, wirkt es wie eine Theaterinszenierung, für die der Betreffende selber blind ist.
Man kann bei einigen schwer traumatisierten Menschen erkennen, dass bei ihnen auch ein Affektverlust auftritt. Mimik und Gestik verändern sich oder werden gar nicht erst ausgebildet. Darauf wiederum reagieren andere Menschen. Je lebendiger wir im Gesicht sind, je mehr wir Gestik und Mimik haben, desto mehr Wirkung haben wir und sie spiegeln uns.
Menschen, die nicht so viel Zuwendung erlebt haben, die von ihren Eltern nicht in Kommunikation gebracht worden sind, die selten gefragt worden sind, wie es ihnen geht, was sie fühlen, brauchen und wollen, entwickeln oft nicht viel Mimik. Wenn niemand mit uns spricht, fehlt die Notwendigkeit Mimik zu entwickeln.
Filmsequenz „Child of Rage“
Um zu zeigen, wie gravierend die Auswirkung sein kann, zeige ich einen Auszug aus dem Film „Child of Rage“. Er handelt von einem Kind, das mit seinem kleinen Bruder gemeinsam adoptiert worden ist. Das Mädchen hat gewalttätige Züge und mehrmals versucht, seinen Bruder umzubringen und offensichtlich fühlt sie nichts dabei. Sie weiß um ihre eigene Geschichte, die Gewalt, die ihr selbst angetan worden ist, aber hat es abgespalten und kein Gefühl dazu.
In dieser Sequenz wird das über Mädchen über die Dinge, die sie tut, interviewt.
Sie zeigt keinerlei Mimik, obwohl sie darüber spricht, wie sie ihren Bruder umbringen will.
Das Kind wirkt sehr wach, sehr bewusst, aber es fehlt ihr jeder Bezug zu ihren Handlungen, jede Emotion. Das ist eine hochgradige Form von Dissoziation, von emotionaler Abspaltung, die hier geschehen ist, durch sehr frühe gravierende Misshandlung. (Einen Beitrag zum Themenkomplex Trauma und Dissoziation findest du auf meinem Blog.)
Das soziale Nervensystem, von Steven Porges entdeckt, funktioniert nicht mehr. Das Gesicht wird nicht mehr angesteuert, um Gefühle auszudrücken. Um auszudrücken, was in der Person eigentlich vorgeht.
Schaubild Ansteuerung des sozialen Nervensystems
Das soziale Nervensystem steuert alle Funktionen, mit denen wir in der Welt in Kontakt gehen, die Gesichtsmuskeln, den Kehlkopf, also die Intonation von der Stimme, wie schnell das Herz schlägt, unser Atmen und auch den Hirnstamm, der für die Stressregulation zuständig ist.
Damit möchte ich die heutige Präsentation beenden. Ich hoffe, Sie konnten etwas mitnehmen und ich konnte verdeutlichen, was mir wichtig ist. Zu zeigen, dass diese frühe Zeit, an die wir uns nicht erinnern können, oftmals die Lösung für unsere heutigen Probleme bringt.
Ich erlebe viele Menschen, die verzweifelt auf der Suche nach Gründen sind, warum bestimmte Dinge in ihrem Leben nicht funktionieren.
Ich war lange auf der Suche, was in meinem Leben schief gegangen ist oder warum bestimmte Dinge nicht funktioniert haben. Natürlich gibt es die offensichtlichen Ereignisse, wie Gewalt und Misshandlung. Aber es gibt auch die viel subtileren Dinge, die uns daran gehindert haben zu lernen und eine tiefgreifende Wirkung darauf haben, wie gut wir uns regulieren können, wie glücklich wir sein können, wie stressresistent wir sind.
Diese Art von Selbstregulation ist das Thermometer für unser Leben.
Falls Sie noch mehr Interesse haben, können Sie sich gerne anmelden, auch für eine Ausbildung oder eine Gruppe.
In der Gruppe lernen Sie auch viel Theorie und den Umgang mit traumatischen Erfahrungen. Es gibt Hilfe zur Selbsthilfe. Meine Ausbildungsgruppen umfassen Schocktrauma-Arbeit und Entwicklungstrauma-Arbeit.
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