Fawn Response – wenn Freundlichkeit ein Zwang ist

Fawn Response

Denkst du manchmal, dass du vielleicht oft zu nett bist, auch zu Menschen, die du nicht einmal magst? Vielleicht ist dann der sogenannte Fawn Response in dir aktiv. Fawn heißt auf Englisch Rehkitz, Response bedeutet Antwort. Fawn ist im Englischen allerdings auch ein Verb und bedeutet: jemandem schmeicheln, sich unterwerfen.

Ich nenne es den „Bambi-Reflex“. Man versucht so harmlos, freundlich und nett zu sein, dass niemand „böse“ wird.

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Wie du den Fawn Response bei dir feststellen kannst

So kannst du erkennen, ob du betroffen bist:

  • Du lächelst, obwohl dir nicht zum Lächeln ist?
  • Du fragst immer erst einmal, was die andere Person will?
  • Du bist unglaublich um Harmonie bemüht und hast immer Angst, dass andere „böse“ auf dich sind?
  • Du versuchst, es immer allen recht zu machen?
  • Anderen zu gefallen ist für dich nicht nur ein „Nice to have“, sondern ein Muss. Andernfalls bist du gestresst und fühlst dich unwohl.
  • Du entschuldigst dich viel zu oft für Dinge, für die du nichts kannst.

Echte und zwanghafte Freundlichkeit – der Unterschied

Ich liebe Freundlichkeit, empfinde diese als sehr wohltuend und versuche auch selbst, freundlich zu sein. Zu anderen Menschen und zu mir selbst. Doch schon in meiner Zeit als Wendo-Trainerin (Selbstverteidigung und Selbstbehauptung für Frauen) ist mir aufgefallen, dass es so etwas wie eine zwanghafte Freundlichkeit gibt, die gar nichts mit einer echten, im Körper gefühlten Freundlichkeit zu tun hat. Mir wurde schon damals klar, dass es sich dabei mehr um eine Art Unterwerfungsgeste handelt. Und genau dies ist der Fawn Response.

Mit dem Bambi-Reflex möchte man seine Umgebung gnädig stimmen und eventuelle Gefahren abwehren.
Es gibt für Menschen unterschiedliche Formen von Unterwerfungsgesten:

  • das Niederschlagen der Augen ist eine Form,
  • das Schräglegen des Kopfes eine andere,
  • Lächeln
  • sich klein machen
  • sich anpassen

Der Fawn-Response ist eher eine chronifizierte Unterwerfungsgeste, die oft auch für die Betroffenen unbewusst ist, da sie sich gar nicht anders kennen.

Fawn Response und Trauma: Die 4 Reaktionen auf traumatische Ereignisse

In der Traumafachwelt wird diese Reaktion inzwischen immer mehr als 4. Reflex auf traumatische Ereignisse gesehen. Bisher galten Kampf, Flucht und Erstarrung (Fight – Flight – Freeze) als die Reaktionen auf eine Gefahr oder ein traumatisches Ereignis. Pete Walker hat diesen Reaktionen eine weitere hinzugefügt In seinem Buch „The 4Fs: A Trauma Typology in Complex Trauma” prägt er den Begriff Fawn Response als 4. Reaktionsform und definiert dieses Verhalten wie folgt:

“Fawn types seek safety by merging with the wishes, needs and demands of others. They act as if they unconsciously believe that the price of admission to any relationship is the forfeiture of all their needs, rights, preferences and boundaries.”

Übersetzung (D.C.): “Bambi-Menschen suchen Sicherheit, indem sie sich an die Wünsche, Bedürfnisse und Anforderungen anderer Menschen anpassen oder mit ihnen verschmelzen. Sie verhalten sich, als würden sie unbewusst glauben, dass der Preis für eine Beziehung das Opfern all ihrer Bedürfnisse, Rechte, Vorlieben und Grenzen ist.“

Ich würde gerne zunächst auf die Entstehung dieses Verhaltens eingehen, damit es besser verständlich wird, warum Menschen sich den Bambi-Reflex unbewusst aneignen.

Die 4 Reaktionen auf Gefahr

Die ersten drei Reaktionen auf Gefahr sind inzwischen allgemein bekannt:
Kampf – Flucht – Erstarrung.
Sobald Gefahr im Verzug ist, springt unser sympathisches Nervensystem an und macht uns bereit, um zu fliehen oder zu kämpfen. Dafür muss viel Energie bereitgestellt werden. Dafür sorgt der Sympathikus. Wir versuchen, die Gefahr zu bekämpfen oder zu fliehen, wenn Kämpfen nicht möglich ist.

Können wir der Gefahr nicht mehr ausweichen, dann kann es sein, dass wir erstarren. Wir wehren uns nicht mehr und lassen „es“ über uns ergehen. Sehr häufig ist dies davon begleitet, dass wir uns selbst von außen sehen und nicht mehr mit uns verbunden sind, wir sind dissoziiert. Man kann sagen, dass dies eine Schutzvorrichtung der Natur ist, den Schmerz und die Angst nicht mehr voll bewusst zu spüren.
Dieses Erstarren wird immer noch durch den Sympathikus gesteuert. Das bedeutet, dass immer noch sehr viel Spannung und Erregung im Körper ist, auch wenn man diese nicht durch Kampf oder Flucht ausagiert. (Möchtest du noch mehr über diese Abläufe erfahren: Was ist ein Trauma?)

Fawn Response als Reaktion auf Gefahr

Die 4. Reaktionsweise, der Fawn Response, ist bisher noch nicht Allgemeinwissen geworden.
Sind wir für längere Zeit einer für uns nicht zu bewältigenden Situation ausgesetzt, so geben wir auf. Wir ergeben uns im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Reaktion wird vom Parasympathikus gesteuert, der eigentlich dafür sorgt, dass wir uns entspannen. Bei dieser Reaktion geht die Spannung aus unserem Körper, wir haben keine Energie mehr, um zu kämpfen oder zu fliehen. Es ist eine Art Totstellreflex, der über die momentane Erstarrungsreaktion hinausgeht.
Wir geben auf.
Wir geben auf, aber wir leben weiter.
Kampf oder Flucht ist für Babys und Kinder ja auch einfach faktisch unmöglich. Wir müssen mit den Menschen (über-)leben, die uns demütigen, lieblos behandeln oder Gewalt antun. Das kann dazu führen, dass wir den Fawn Response als Überlebensmechanismus entwickeln, der aus Anpassung und Unterwerfung besteht. Wir versuchen so freundlich und entgegenkommend zu sein, dass niemand „böse“ auf uns wird und wir möglichst keine Aufmerksamkeit, Demütigung oder Gewalt auf uns ziehen. Die kindliche Annahme ist leider, dass man selbst der Auslöser für das Verhalten der Erwachsenen ist – von daher auch die Schuld- und Schamgefühle, die viele in sich tragen. Das Kind versucht, möglichst keinen Unmut auszulösen. So kann mit der Zeit der Fawn-Response oder Bambi-Reflex entstehen.
Der Fawn-Response kann allerdings durch langanhaltende Gewaltbeziehungen auch noch bei Erwachsenen entstehen.

Der Fawn-Response als intelligente Überlebensstrategie

Als Kinder müssen wir eine Strategie finden, mit der wir am meisten Bindung, Zuwendung und am wenigsten Gewalt erfahren. Kinder haben immer eine Bindung zu ihren Eltern oder Bezugspersonen. Wir lieben unsere Eltern und wir sind angewiesen darauf, dass sie uns lieben oder zumindest versorgen.

Es kann also eine sehr intelligente Strategie sein, immer freundlich zu sein. Es kann wichtig sein, immer herauszufinden, wie man sein muss, um keine Gewalt auszulösen oder vielleicht sogar der Sonnenschein der Familie zu werden.
In solchen Elternhäusern versuchen Kinder immer die Stimmung ihrer Eltern zu lesen. Viele Kinder versuchen sich möglichst unsichtbar zu machen, freundlich und hilfreich zu sein, damit sie überleben.
Dabei gibt man sich selbst auf. Arno Gruen nannte dies den Verrat am Selbst. Durch das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse kann es mit der Zeit zu Identitätsverlust kommen.
Manchmal lernt man allerdings dieses Selbst, diese eigene Identität nicht einmal kennen, weil man zu früh gelernt hat, sich anzupassen und immer „lieb“ zu sein. Menschen laufen dann vielleicht lächelnd durch die Welt, fühlen sich aber leer, einsam und wissen im Grunde nicht, wer sie sind und was sie vom Leben wollen.

Die Folgen des Bambi-Reflexes

Dieses überangepasste Verhalten bringt viele Probleme für die Betroffenen, da sie ja für ihre Umgebung einfach nett und freundlich sind und es daran zunächst ja nichts auszusetzen gibt. So bekommen sie selten eine Rückmeldung, dass sie vielleicht zu nett sind und sich selbst schaden. Im Gegenteil: Für ihre Mitmenschen ist ihr Verhalten oft sehr praktisch, da die Wünsche und Bedürfnisse der anderen immer im Mittelpunkt stehen und man selten Grenzen gesetzt bekommt oder ein Nein hört.

Das häufigste Problem ist jedoch, dass Betroffene sich selbst einfach kaum noch als Selbst spüren. Es ist ungeheuer schwer, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren. Manchmal ist es schon unmöglich, diese überhaupt nur zu fühlen. Es ist ein Automatismus, sich meistens den Bedürfnissen von anderen unterzuordnen. Dies geschieht so schnell, darüber müssen Betroffene nicht einmal mehr nachdenken. Dadurch werden sie oft zum „seelischen Mülleimer“ von anderen. Und die anderen halten sie für wunderbar, weil der Umgang so harmonisch, zugewandt und aufmerksam ist. So kann es auch zu Co-Abhängigkeit oder anderen nicht gesunden Beziehungen kommen. Gerade für Narzissten sind Betroffene „leichte Beute“. Pete Walker geht davon aus, dass Menschen mit einem ausgeprägten Fawn Response häufig ein narzisstisches Elternteil hatten und deshalb anfällig dafür sind, sich wieder Partner*innen mit einer narzisstischen Störung zu suchen.

Ein Leben in dieser ständigen Selbstverleugnung kann der Boden für viele Symptome, wie Depression, somatische Schmerzen und weiteren Krankheiten sein. In seinem Buch „Der Körper sagt Nein“ beschreibt Gabor Maté, wie der Mangel an Grenzen und der Fähigkeit sich selbst zu behaupten die Grundlage für viele somatische Erkrankungen sein kann.
Durch das Zurücknehmen von eigenen Emotionen wie Traurigkeit, Wut oder Angst, um potentielle Wut, Gewalt oder Gefühllosigkeit einer Bezugsperson zu vermeiden, richten Kinder (oder später Erwachsene) diese Gefühle oft gegen sich selbst, in Form von Selbstverurteilung und autoaggressivem Verhalten.

Ein weiteres Problem auch in Psychotherapien ist, dass Psychotherapeut*innen teilweise nicht erfassen, dass ihre Klient*innen in einem chronifizierten Totststellreflex oder im Fawn Response gefangen sind. Viele, auch traumainformierte Menschen glauben, dass Dissoziation, Erstarrung oder der Totstellreflex (soweit überhaupt bekannt), vorübergehende Phänomene sind, die nur auftauchen, wenn sie durch einen Reiz ausgelöst werden. Leider ist dies nicht der Fall. Viele Menschen leben jeden Tag in diesen Zuständen, oft ohne es bewusst wahrzunehmen, weil sie es/sich nicht anders kennen.

Die ersten Schritte aus dem Fawn Response

Menschen mit diesem Überlebensmechanismus haben oft die Angst, dass sie womöglich unfreundlich zu anderen sind. Dies gilt es zu verändern. Wir können freundlich sein, wenn wir es möchten. Wir dürfen aber auch einfach neutral und entspannt schauen, wenn es gerade nichts zum Lächeln gibt. Wir dürfen auch traurig oder frustriert aussehen. Es ist auch möglich, respektvoll Ärger auszudrücken und Nein zu sagen, ohne unhöflich oder gemein zu sein. (Dazu empfehle ich dir auch meinen Blogartikel „Nein sagten lernen: Warum ein Ja ein Nein braucht“)

Möchtest du also langsam aus dem Bambi-Reflex aussteigen, ist es wichtig, dass du dich selbst beobachtest und anfängst deine Reaktionen und auch dein Mienenspiel/deinen Gesichtsausdruck bewusst wahrzunehmen. Mach dir klar, dass der Fawn Response eine Art von Konditionierung ist, die in deiner Kindheit sinnvoll und wichtig zum Überleben war. Konditionierungen kann man wieder verlernen und Reize entkoppeln. Das braucht Zeit, Geduld und Liebe von deiner Seite.

  • Wenn du möchtest, kannst du ausprobieren, was in dir passiert, wenn du nicht ständig lächelst. Oftmals wirst du dann eine diffuse oder auch akute Angst spüren. Dies ist ein Signal dafür, dass dein Lächeln eher etwas mit einer Unterwerfungsgeste zu tun hat. Ein echtes Lächeln ist an ein Gefühl von Freude gekoppelt.
  • Beobachte auch, ob dein Ja von Herzen kommt oder ob du vielleicht lieber Nein sagen möchtest. Beobachte auch da, was in dir passiert, wenn du Nein sagst.
  • Wie gehst du mit deinen Grenzen um? Spürst du diese überhaupt? Und kannst du ausdrücken, wenn dir etwas zu nah oder zu viel ist?

Dies sind erste Schritte, um aus dem dem Fawn Response wieder aufzuwachen und zu beginnen, dich wieder zu spüren. Angst wird dabei deine Begleiterin sein, denn du hast den Bambi-Reflex ja entwickelt, weil du damals so viel Angst hattest. Du hattest Angst vor Aggression und davor, deine Bezugspersonen ganz zu verlieren. Geben wir die Muster, die uns damals beschützt haben, auf, so kommt leider die abgespaltene Angst von damals wieder hoch.

Sei freundlich zu dir!

Versuche lieb mit dir zu sein und zu realisieren, dass es eine alte Angst ist.
Sie gehört zu deiner Geschichte und braucht nun Raum, Aufmerksamkeit und Liebe, damit sie endgültig gehen kann. Du wirst mit der Zeit immer mehr entdecken, wer du eigentlich bist und was du dir vom Leben wünschst!

Es kann sein, dass du „Freund*innen“ verlierst, doch mach dir klar, dass echte Freund*innen, die dich lieben, sich eher an deiner Entwicklung erfreuen und dich dabei unterstützen werden. Das Schöne für deine Umgebung wird sein, dass alle viel besser wissen, woran sie bei dir sind. Denn, Hand aufs Herz, manchmal lässt du Leute hinterher doch spüren, dass du etwas nicht gerne getan hast oder nicht wolltest. Menschen, die klar sagen, was sie sich wünschen und auch klar sagen, wenn sie zu etwas keine Lust haben, sind im Umgang viel einfacher. Wir können uns in deren Gegenwart besser entspannen und hören auf, für die andere Person mitzudenken.

Auf meinem Blog erfährst du auch, wie du gute Freundschaften pflegen kannst.

An dieser Stelle möchte ich dir noch folgende meiner Blogartikel empfehlen:

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