Entwicklungstrauma ist die versteckte Epidemie unserer Zeit. Viele Menschen leiden unter den Folgen eines Entwicklungstraumas, ohne es zu wissen. Manche Traumaforscher nennen es die Mutter aller Krankheiten und Störungen. Diese Idee ist äußerst lebendig: Als Therapeut begegnet man in der Praxis meist mehr Menschen mit Entwicklungstraumata als mit Schocktraumata. Zusätzlich geht ein weiteres essentielles Problem meist Hand in Hand damit: Entwicklungstrauma heilen bedeutet meist auch vorhandene Bindungstraumata zu heilen.
Was ist ein Entwicklungstrauma und welche Folgen hat es?
Die Therapie bei frühen Verletzungen und Entwicklungstrauma hat vollkommen andere Grundlagen als die Arbeit mit Schocktrauma.
Viele Traumatherapien sind Schocktraumatherapien, leider oft, ohne dass es gesagt wird. Die therapeutischen Bedürfnisse werden dann unzureichend erfüllt und das Heilen wird erschwert.
Entwicklungstrauma, frühe Störungen und Verletzungen sind meist untrennbar mit Bindungsstörungen verbunden und eigentlich immer mit großen Schwierigkeiten in der Selbstregulation. (Lies hier: Was ist Selbstregulation?)
Meiner Erfahrung nach haben 95% aller Klienten, die wegen eines Traumas eine Therapie aufsuchen keine reine Schocktraumaproblematik.
Häufig stellt man als TherapeutIn in der Praxis fest, dass es zusätzlich zum Schocktrauma eine Geschichte von frühen Verletzungen im Hintergrund gibt. Diese frühen Verletzungen und unsicheren Bindungen prägen unser Selbstbild und unsere Identität.
An dieser Stelle ist es vielleicht wichtig das Wort Entwicklungstrauma etwas zu definieren. Leider führt jedes Wort das „Trauma“ beinhaltet zu bestimmten Assoziationen, die in diesem Fall häufig falsch sind. Normalerweise haben die meisten Menschen beim Hören des Wortes „Trauma“ Bilder von Gewalt, sexuellen Übergriffen oder schwerer Vernachlässigung im Kopf. Leider haben diese Art traumatischer Ereignisse für viel zu viele Menschen in ihrem Leben stattgefunden.
Ein Entwicklungstrauma kann jedoch auch schon durch Ereignisse, Erziehungs- und familiäre Umgangsformen entstehen, bei denen es uns aus erwachsener Sicht schwer fällt, diese als traumatisch und verletzend zu sehen.
Zu diesen gehört, dass Babys nach der Geburt nicht bei der Mutter liegen dürfen oder im Krankenhaus bleiben müssen. Außerdem bestand in der Praxis der Erziehung lange der Irrglaube, dass ein Baby nicht „verhätschelt“ werden sollte und deshalb haben viele Mütter über lange Jahre ihre Kinder nur alle drei Stunden gefüttert. Relationale Bedürfnisse wurden von klein an nicht erfüllt. Manchmal ist eine Mutter depressiv, hat eine Wochenbettdepression oder hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (sog. narzisstische Mutter). Oft haben Eltern schlicht keine Zeit für das Kind oder sind unfähig sich empathisch in die Bedürfnisse des Kindes einzufühlen.
All dies reicht, um die Entwicklung des Kindes stark zu beeinflussen und bleibende Spuren zu hinterlassen als Trauma. Das alles wird unter dem Wort „Entwicklungstrauma“ zusammengefasst.
Diese Umgangsweisen mit Säuglingen und Kleinkindern hat sich leider nur wenig verändert, wir können nur hoffen, dass viele Babys der heutigen Generationen einen besseren Start bekommen, indem die Eltern sie von Anfang liebevoll willkommen heißen und sie in all ihren Grundbedürfnissen sehen und versorgen können.
Leider nimmt allerdings die Frequenz der operativen Eingriffe an Säuglingen und Kleinkindern zu. Hier gilt für die Medizin leider die Machbarkeitsregel und nicht die neuesten Erkenntnisse der Traumaforschung.
Die Auswirkungen dieser frühen Verletzungen sind unterschiedlich, man kann aber sagen, dass die Fähigkeit zur Selbstregulation am meisten betroffen ist. Gemeinsam mit der Fähigkeit zu nahem Kontakt und Bindung. Je stärker die Folgen dieser frühkindlichen Lebensumstände sind, desto mehr verliert der Mensch auch den Zugang zu seinem Körper und seinen Gefühlen. Diese frühen Erfahrungen werden nicht nur Teil der unbewussten Erinnerungen, sondern auch Teil der Identität.
Traumaheilung heißt auch Bindungstrauma heilen
Ein früher Mangel an sicherer Bindung bei Babys und Kindern führt also zu Entwicklungstrauma. Es handelt sich um einen langfristigen Mangel an Sicherheit, Bindung und liebevoller Zuwendung oder ein langfristiges Zuviel an Stress.
Die Wirkung von Trauma und fehlender Bindung, zeigt sich im späteren Leben oft in einem Mangel an Freude, Vertrauen, wenig Stressresistenz und Schwierigkeiten in Liebesbeziehungen. Das Bindungstrauma wirkt sich aber grundsätzlich auf jedes Beziehungsmodell aus, denn wenn man als Baby und Kind zu seiner Mutter und Vater oder anderen engen Bezugspersonen keine gesunde Bindung erlernt hat und Grundbedürfnisse nach körperlicher und emotionaler Nähe nicht erfüllt wurden, leidet lebenslang die generelle Beziehungsfähigkeit und es kann kein positives Selbstbild entwickelt werden. Darunter leidet später u.a. das Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und das Gefühl von Sinnhaftigkeit im Leben.
Aus den gesamten Erfahrungen werden vermeintliche Überlebensstrategien entwickelt, die aber auch zur Selbstbehinderung, fehlender Gefühls-Regulierung und weiteren schlechten Erfahrungen führen können.
Dadurch wird das Leben einerseits sehr anstrengend für die Betroffen und andererseits sehr schal.
Glück und Entspannung sind meist ein seltene Gäste. Dafür kennen es die meisten sich immer wieder in inneren oder äußeren Dramen wieder zu finden. Unbewusst werden die frühen Erfahrung von Ablehnung, Unsicherheit und Schmerz reinszeniert. Die innere Überzeugung nichts wert zu sein, nicht liebenswert zu sein wird dadurch leider oftmals immer wieder bestätigt. Man findet sich in einem Kreislauf von Hoffnung und Enttäuschung, Drama und Verletzung wieder und es ist schwer ohne Unterstützung zu erkennen, welchen Anteil man selbst daran hat.
Je früher die eigenen Lebensumstände negativ waren, desto mehr fühlen sich Menschen als Außenseiter, abgeschnitten und haben das Gefühl als Alien durch die Welt zu gehen. Häufig begleitet von einem Gefühl tiefer innerer Einsamkeit.
Die Neigung zu Dramen scheint darauf zurückzuführen zu sein, dass der Körper bei Stress einerseits Stresshormone ausschüttet und andererseits körpereigene Opiate freisetzt. Diese körpereigenen Opiate, auch Endorphine genannt sind so stark wie Heroin und dämpfen den Schmerz, der durch einen Angriff entstehen könnte.
Es scheint so zu sein, dass der Körper sich an diese Endorphingaben gewöhnt und süchtig wird. Später im Leben inszenieren Menschen dann Dramen, um unbewusst wieder diesen „Kick“ zu bekommen. Finden diese Inszenierungen häufiger statt, kann dies zu einer brisanten Beziehungsdynamik, wie wir sie aus dem Dramadreieck kennen, führen.
Deshalb ist es in einer Psychotherapie und besonders in der Traumatherapie und Körperpsychotherapie immer auch ein Therapieziel, die Klienten von diesem Kick zu entwöhnen. Es geht darum, dysfunktionale Muster aufzulösen, indem man neue Erfahrungen macht und den eigenen, oft verdrängten Schmerz fühlen kann (diesmal aber nicht alleine, sondern innerhalb der sicheren Beziehung zur Therapeutin) und so auf den Weg der Heilung früherer Verletzungen gelangt. Bei einer gelungenen Traumatherapie, wenn Bindungstrauma heilen und auch Entwicklungstrauma heilen, kann jedes Beziehungsmodell für die unterschiedlichen persönlichen Beziehungen neu belebt werden.
Durch eine gelungene Intergration von Entwicklungstrauma und der verbesserten Selbstregulation wird das Leben subjektiv gefühlt zunächst langweiliger, weil undramatischer. Da die Spitzen (innere Dramen), die immer wieder das Window of Tolerance (siehe Videolehrgang) sprengen, dann mit der Zeit immer weniger werden, hat man anfangs das Gefühl, dass der Alltag langweiliger wird. Dies ist nicht für alle Menschen ein erstrebenswertes Ziel und die Klienten sollten darüber aufgeklärt werden.
Selbstregulierung: Heilen durch eigene Stärke
Im besten Fall weitet sich allerdings die Fähigkeit zu fühlen und präsent im Körper und damit auch im Leben zu sein, mit der Zeit aus. Die Rückgewinnung der Selbstregulierung ist der wichtigste Aspekt im Prozess der Heilung von Trauma. Die Stärke unserer Selbstregulation bestimmt, wie glücklich wir sein können, wie stressresistent wir sind und wie gut wir Impulse regulieren und auf Reize reagieren.
Dadurch wird das Leben entspannter, ruhiger und bekommt mehr echte Tiefe.
Dramen wirken sehr lebendig, sind aber letztendlich einfach nur leer und hohl wie ein Hollywoodfilm.
Als Therapeuten sollten wir deshalb aufpassen uns nicht in die Dramen unserer Klienten involvieren zu lassen. Außerdem sollten wir auch im therapeutischen Prozess keine Dramen und große Gefühle und emotionalen Ausbrüche evozieren. Gerade bei traumatischen Erinnerungen und traumatisierten Menschen sollten die Gefühle immer nur so groß sein, dass die Klienten sie gut in ihrem Körper halten und fühlen können. Alles was darüber hinausgeht, sollte meiner Erfahrung nach, vermieden werden.
Entwicklungstrauma heilen bedeutet, die Selbstregulierung zu stärken und zugleich die Beziehungsfähigkeit zu fördern, indem dieser Aspekt mit in die Behandlung aufgenommen wird als wichtiges Problem aus einem meist zugehörigen Bindungstrauma. Heilen wird so zu einem gesamtheitlichen und damit erfolgsversprechenden Prozess.