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Helgrits Tagebuch – Krise und Wendepunkt

von | 11.09.2020 | 5 Kommentare

Hallo, ich bin Helgrit.

Kennst du das auch? Du glaubst, mit dir sei etwas grundsätzlich verkehrt, und du funktionierst gerade so, dass es keiner merkt. Oder du bist ständig damit beschäftigt, von einer Krise in die nächste zu schlittern, und du musst das alles alleine bewältigen.
Meine Tagebücher sind voll von solchen Gedanken.
Die Entscheidung, das öffentlich zu zeigen, ist mir nicht leichtgefallen.
Was mich dazu bewogen hat, ist die Hoffnung, dass du siehst, dass es auch anderen so oder so ähnlich geht, und es dir hilft, mehr Verständnis für dich zu haben und dir Mut zu machen.
So, wie mich Dami und das ganze Team ermutigt haben, hier zu schreiben.

Tipping Point

Heute möchte ich dir gern erzählen, wie es für mich war, zu erkennen, dass ich mit all dem, was mich belastet und mich daran hindert, wirklich in mein eigenes Leben zu gehen, nicht mehr ohne Hilfe weiterkomme.

Diese Erkenntnis hatte ich (gefühlt) sehr spät.
Ich war schon über 50, als ich das erste Mal den Gedanken zulassen konnte, so etwas wie eine Therapie zu machen.
„So etwas wie“, beschreibt mein Gefühl dabei recht deutlich. Obwohl ich, besonders durch meine beste Freundin, schon sehr lange und immer wieder mit diesem Thema beschäftigt war, blieb das für mich selbst eine verschlossene Tür.
Wie die Psyche funktioniert, hat mich seit meiner Schulzeit interessiert und mich mein Leben lang begleitet. Bei anderen Menschen, wohlgemerkt.

Und dann gab es einen Moment, wo sich meine eigene Tür einen Spalt breit geöffnet hat.
Das war für mich der Wendepunkt und zog eine ganze Kette von Entscheidungen und Veränderungen nach sich.

2015 – Der Aufbruch

Bevor ich richtig anfange, muss ich ein wenig in der Zeit zurück gehen.

Anlass für den folgenden Tagebucheintrag war nämlich ein Fragebogen aus Damis Online-Kurs „Einfach Mensch sein“, den ich im Frühjahr 2018 begonnen habe.
Was eigentlich eine kurze Standortbestimmung sein sollte, wurde bei mir eine sehr intensive Rückschau.

Auslöser dafür war die Frage:

Was war der ausschlaggebende Moment, um etwas zu verändern?

Definitiv das Wochenende mit Freunden auf Rügen, als sie mir das Frühstück am Strand gemacht haben – das war im Oktober 2015 – eigentlich eine schlimme Zeit für mich.

Ich war damals in einem Konflikt gefangen, in dem es vor allem um mein Verhältnis zu meinem Vater ging. Das war, solange ich denken kann, von Übergriffen und Abwertungen seinerseits geprägt. Mir ist es bis zum Schluss nicht gelungen, dort eine Grenze zu setzen. Selbst dann nicht, als er körperlich und psychisch regelrecht zerfiel. Es veränderte nur die äußeren Umstände. Die Dynamik zwischen uns blieb bestehen.
Und so habe ich widerspruchslos die Aufgabe übernommen, ihn zu seinen zahlreichen Arztbesuchen zu bringen und mich auch sonst wie selbstverständlich um seine Befindlichkeiten zu kümmern und in ständiger Bereitschaft zu sein. Gleichzeitig habe ich versucht, meine Mutter zu beschützen und sie immer wieder aus der „Schusslinie“ zu ziehen.

In diesem Herbst war ich schon lange über meine Belastungsgrenze gegangen und konnte keinen Ausgang aus dieser Sackgasse finden.

Dann kam die Einladung meiner Freunde und das Wochenende sollte eine willkommene Auszeit sein – sollte!

Tatsächlich war es ein totales Desaster für mich.

Endlich Kraft tanken

Sehr viel von dem, was mir in meinem Leben begegnet ist, habe ich vergessen. Das Schöne und das Schlimme. Für mein Bewusstsein ist es wie verschüttet. Nur manchmal fühle ich, dass da etwas war, ohne es greifen oder beschreiben zu können.

Mit diesem Wochenende im Herbst 2015 ist das anders.

Rügen ist mein persönlicher „Glücksort“ und ich kann das Meer riechen, wenn ich daran denke, wie ich an diesem Morgen über die Rügenbrücke fuhr. Hinter mir lag Stralsund, vor mir meine Lieblingsinsel, in Morgennebel getaucht. Selbst jetzt, während ich hier schreibe, wird alles weit und leicht in mir. Ein Gefühl von Freiheit und durchatmen.

Und es wurde noch schöner.
Als ich bei meinen Freunden ankam, überraschten sie mich mit einem liebevoll gedeckten Frühstückstisch am Strand. Dafür hatten sie schon am frühen Morgen alles mühsam über eine enge Treppe die Steilküste heruntergetragen, nur um mich zu überraschen! So etwas hat selten jemand für mich gemacht und schon mit dem Berührt sein darüber war ich total überfordert. Noch schlimmer wurde es in mir, als ich dann dort mit ihnen saß.

Das Schöne nicht fühlen können

Ich konnte mir kaum etwas Schöneres vorstellen, als diesen Moment. Neben mir das Meer, Zeit und die Freiheit, mit meinen Freunden dort zu sitzen und die Herbstsonne zu genießen, und vor mir ein Wochenende ohne Probleme und Anforderungen. Das alles konnte ich mit dem Kopf erfassen, aber ich konnte es einfach nicht fühlen. Es war, als gäbe es im Hals eine Stelle, die bei jedem Versuch so eng wurde, dass da einfach nichts durchging.

Währenddessen habe ich verzweifelt versucht, das alles in mir festzuhalten, als einen Anker für die kommende Zeit. Das war, als wollte ich ein Gefäß mit Wasser füllen, das lauter Löcher hat. So, wie ich es in mir aufgenommen habe, floss es sofort wieder aus mir heraus.
Auch körperlich ging es mir an diesem Wochenende immer schlechter.
Wieder zu Hause angekommen, fühlte ich mich erschöpfter als zuvor. Und während ich im Bett liegend die Decke anstarrte, wurde mir klar, dass ich mit allen meinen Problemen leben kann, aber nicht damit, keine Freude mehr spüren zu können und von schönen Dingen nicht berührt zu sein.

Das war der Wendepunkt und ich habe mir die Frage gestellt: „Mache ich so weiter und halte es aus oder versuche ich wenigstens, da raus zu kommen? Dann brauche ich Hilfe!“
Ich habe mich für das zweite entschieden. Gott sei Dank! Es war einfach das Gefühl, dass ich mich nicht kampflos ergeben will!

Wohin hat es mich gebracht?

Also erstmal zum Hausarzt.
Ich sehe mich noch dort sitzen – übrigens erst nach dem zweiten Anlauf, ein Wunder, dass ich das zweite Mal überhaupt noch hingegangen bin!

Ja, da saß ich nun! Schon vor der Tür platziert. Vor mir das Bild im Flur, das ich von oben bis unten durchgescannt habe, nur um nicht abzuhauen.
Aber dagegen sprach ja, dass ich ein braves Mädchen bin, und schließlich war ich schon angemeldet… Manchmal helfen die alten Muster auch.
Ich fühlte mich wie eine Pfeife, die den wirklich kranken Leuten die Zeit beim Arzt stiehlt, und habe verzweifelt überlegt, was ich überhaupt sagen soll.

Diagnose: Depressionen

Und dann war alles einfacher als gedacht.
Der Arzt hat ziemlich schnell gemerkt, was los ist.
Da war es auch erstmal egal, dass er es hauptsächlich auf die dunkle Jahreszeit geschoben hat – die übrigens 2015 gar nicht so dunkel war. Es war ein phantastischer Herbst, sonnige Tage bis in den November hinein! Aber das nur nebenbei.
Wichtig war nur, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, mir Hilfe zu holen und sie auch bekommen habe.
Ein kleines Wunder!

Schließlich habe ich die Praxis mit einem Rezept für „Laif 800“ und einem Zettel mit der Telefonnummer einer Therapeutin verlassen.
Das Medikament zu bekommen war eine kleine Herausforderung, es war einfach in keiner Apotheke zu bekommen.
Das hat mich schon mal auf Trapp gebracht und meinen Aktionsradius erheblich erweitert. Und ich kenne inzwischen so ziemlich jede Apotheke im Umkreis. Schließlich war ich doch erfolgreich. Und ich merkte schon so nach drei, vier Tagen eine Veränderung.
Eher an den Nebenwirkungen.
Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, ich wäre hyperaktiv. Und trotz vieler Warnungen rundherum: von – das hilft doch sowieso nicht – über – davon wirst du abhängig – bis zu – das kann lebensgefährliche Nebenwirkungen haben – mir hat es geholfen!
Einfach im Bett liegen bleiben, das war plötzlich unmöglich!
Den Zettel mit der Telefonnummer der Therapeutin habe ich übrigens erstmal beiseite gelegt.

Veränderungen und Fallstricke

Fakt ist, es begann etwas in Bewegung zu kommen.
Ich selbst, zum Beispiel!
Und? Habe ich das kleine Quäntchen Energie und Kraft genutzt, um etwas für mich zu tun?
Natürlich nicht!
Warum auch immer, ich glaubte, ich könnte das gleich mal dafür verwenden, um etwas für meine Eltern zu tun.

Und zwei Wochen später war mein Vater tot. Plötzlich und unerwartet! Mit 81 und bis zum Stehkragen abgefüllt mit Psychopharmaka und Schmerzmitteln! Da er aber ansonsten keine lebensbedrohlichen Krankheiten hatte, konnte der Notarzt keinen triftigen Grund für seinen plötzlichen Tod finden und schrieb „Todesursache unbekannt“ auf den betreffenden Schein.
Das bescherte uns einen Tag mit Polizei und Kripo in der Wohnung, Untersuchungen und Befragungen und der Überführung meines Vaters in die Gerichtsmedizin.
Was für ein Abgang!
Und ich? Habe mich schuldig gefühlt! Weil ich seine Probleme nicht ernst genug genommen und ihn nicht verstanden habe! Während ich das hier so aufschreibe, denke ich – was für ein Wahnsinn! Und mir fällt dabei ein, dass meine Tante hinterher zu mir gesagt hat, dass sie es nie verstehen konnte, warum ausgerechnet ich mich so viel um ihn gekümmert habe.

So endete das Jahr 2015 mit einem sanften Erwachen und einem Paukenschlag.
Der bescherte uns jedenfalls noch eine Seebestattung, bei ungewöhnlich mildem Wetter, am 9. November vor den Kreidefelsen auf Rügen.
Von nun an brauchte ich mich nur noch um meine Mutter kümmern.

Beim Silvesterfeuerwerk – Vorsicht, jetzt wird es ein wenig pathetisch! – habe ich mir für 2016 ein wenig Magie gewünscht.
Und tatsächlich konnte ich sie in diesem Jahr ganz oft sehen!…

Beim nächsten Mal geht es um meine ersten Therapieerfahrungen, was hilfreich und was schwierig war.
Ich freue mich, wenn du wieder dabei bist.
Helgrits Tagebuch – Schritte aus der Depression und Therapie
Im dritten Teil geht es dann um meine Erfahrungen mit dem Onlinekurs „Mit Trauma leben“
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5 Kommentare

  1. Danke fürs Teilen ❤️

    Antworten
  2. Danke für den Einblick in dein Leben und deine Gedanken und Gefühle!

    Antworten
  3. Hallo Samira und Paeplow,

    vielen Dank auch an euch!

    Viele Grüße von Helgrit

    Antworten
  4. Liebe Helgrit <3
    ich hab nur bis zur Flasche mit den Löchern gelesen… du beschreibst so vieles von mir voll krass (wo ich immer dachte ich bin unnormal und so fühlt bzw. nicht fühlt doch keiner sonst..) und ich dachte, ach deswegen fühlte ich mich so von dir verstanden damals schon.. (obwohl ich dir nur zugehört hab und ich konnte gar nicht sagen warum..)
    ich hab mir immer jemanden gewünscht, der mich so versteht – ich kann jetzt gar nichts mehr schreiben…
    ich les später weiter..
    Gaaanz herzliche Grüße Claudia

    Antworten
  5. Liebe Claudia,

    vielen Dank!

    Das wir uns so unnormal fühlen trennt uns leider, weil wir oft nicht wissen, dass es dem anderen genauso geht…

    Alles Gute für dich und liebe Grüße von Helgrit

    Antworten

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