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Neue Erkenntnisse zum Thema Angst

von | 08.07.2017 | 0 Kommentare

Angst ist ein (über-)lebenswichtiges Gefühl

Angst ist ein Gefühl, das jeder kennt, aber völlig unterschiedlich erlebt werden kann. Stellen wir uns vor, eine Gruppe von 10 Leuten bekäme den Auftrag, frei zu assoziieren, was ihnen zum Stichwort „ängstlich“ einfällt – ich möchte wetten, dass es dabei eine breite Palette von Antworten geben wird. Je nachdem, in welcher Intensität die betreffende Person Angst bei sich erlebt, werden die Assoziationen eher harmlos (ein flüchtendes Kaninchen etwa) oder extrem bedrohlich ausfallen.

Ohne Angst könnten wir nicht überleben. Dieses Gefühl ist ein unabdingbares Signal, das im Bruchteil einer Sekunde auf Gefahren reagiert, viel schneller, als unser Bewusstsein jemals dazu in der Lage wäre. Unser Körper reagiert mit einem rapiden Anstieg von Blutdruck und Pulsfrequenz, schüttet vermehrt Adrenalin aus, steigert die Durchblutung der Muskulatur sowie unsere Aufmerksamkeit. Flucht, Kampf oder im schlimmsten Fall Erstarrung sind die Optionen, die uns angesichts einer lebensbedrohlichen Gefahr zur Verfügung stehen – eine evolutionäre Errungenschaft, die wir mit der Tierwelt teilen.

Wenn die Angst überhandnimmt

Problematisch wird das Ganze allerdings, wenn diese Reaktion in Situationen ausgelöst wird, die an sich nicht lebensbedrohlich sind, von einem Teil unseres Gehirns jedoch so interpretiert werden. Sicherlich ist es für niemanden angenehm, am Arbeitsplatz zum Chef zitiert zu werden, und eine gewisse Nervosität ist dabei völlig normal. Manche Menschen jedoch werden schon bei der Vorstellung derartig von Angst überflutet, dass die oben beschriebenen Reflexe – Flucht, Kampf oder Erstarrung – dabei aktiviert werden, obwohl sie für die beschriebene Situation völlig unangemessen sind. Woran liegt das?

Unser Gehirn speichert Erinnerungen im Hippocampus ab und sorgt gleichzeitig dafür, dass sie über sensorische Auslöser abrufbar bleiben. Es gibt in Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eine markante Stelle, die diesen Vorgang eindringlich beschreibt: der Geschmack eines in Tee getauchten Gebäckstücks schwört hier die Erinnerung an einen geliebten Ort herauf. Und sobald ich den Geschmack […] erkannt hatte […], erschien sofort das alte graue Haus an der Straße, wo sich ihr Schlafzimmer befand, wie eine Theaterkulisse und fügte sich an den kleinen Pavillon auf der Gartenseite, den man auf der Rückseite für meine Eltern gebaut hatte […]; und mit dem Haus kam die Stadt, vom Morgen bis zum Abend und zu allen Zeiten, der Platz, wohin man mich vor dem Essen schickte, die Straßen, wo ich einzukaufen pflegte, die Wege, die man entlangging, wenn das Wetter schön war.

Diesen Mechanismus, bei dem ein wahrgenommener Teilaspekt automatisch zum ganzen Muster vervollständigt wird, nennt man Musterkomplettierung, und sie ist eine der zentralen Aufgaben des Hippocampus. Ihr komplementäres Gegenstück, die Musterseparation, ist im Gyrus dentatus angesiedelt und an die Produktion neuer Nervenzellen gekoppelt, die sich in bestehende Netzwerke einfügen. Die Musterseparation macht es möglich, dass wir zwischen verschiedenen Erinnerungen unterscheiden können, mögen sie sich auch noch so sehr ähneln.

Wissenschaftler haben nun herausgefunden, dass die neu entstandenen Zellen im Gyrus dentatus hemmende Neurone aktivieren, die verhindern, dass die Erinnerung an frühere ähnliche Ereignisse aufgerufen wird. Bei Menschen mit Angststörungen scheint jedoch gerade diese Hemmung nicht zu funktionieren. So können harmlose Silvesterknaller für einen traumatisierten Kriegsveteranen die Erinnerung an Gewehrsalven heraufbeschwören und die damals damit verbundene Panik auslösen.

Wundervorgang Neurogenese

Versuche an Mäusen belegen die These, dass die Hemmung ähnlicher Gedächtnisinhalte aufs Engste mit der Produktion von frischen Zellen verknüpft ist: Die Tiere, denen die Fähigkeit zur Neurogenese genommen worden war, hatten große Schwierigkeiten, einen harmlosen Ort von einem anderen zu unterscheiden, an dem sie zuvor einen Stromschlag bekommen hatten. Sie übertrugen offensichtlich die Erfahrung, die sie an diesem ähnlichen Ort gemacht hatten, auf die neue Situation und reagierten entsprechend. Mäuse mit der Fähigkeit zur Neurogenese beruhigten sich hingegen sehr viel schneller in der harmlosen Umgebung und konnten die beiden Orte rasch voneinander unterscheiden.

Auch Gegenstände können offensichtlich schwerer auseinandergehalten werden, wenn die Produktion frischer Zellen vermindert ist. In Minnesota haben Wissenschaftler herausgefunden, dass Angstpatienten, die zuvor beim Anblick eines Objekts einen leichten Stromschlag auf das Handgelenk bekommen hatten, bereits dann erschreckten, wenn ihnen ein ähnliches Objekt gezeigt wurde, auch wenn der erwartete Stromschlag ausblieb. Hier, so lautet nun die These, könnte eine Steigerung der Neurogenese helfen, die ursprüngliche angstauslösende Situation von der neuen − harmlosen − zu unterscheiden.

Wie lässt sich das Zellwachstum steigern?

Interessanterweise soll unter anderem das in den USA seit Jahrzehnten verbreitete Antidepressivum Prozac mit dem Wirkstoff Fluoxetin die Neurogenese ankurbeln. Mäuse unter Prozac sind nachweislich unternehmungslustiger und haben weniger Angst in einer unbekannten Umgebung. Wird die Fähigkeit zur Neurogenese bei diesen Mäusen jedoch blockiert, bleibt auch das Prozac wirkungslos – ein überzeugender Beweis dafür, dass die verminderte Angst der Mäuse mit der Fähigkeit zur Neubildung von Zellen in Zusammenhang steht (Dies ist kein Plädoyer für die Einnahme von Prozac, sondern lediglich eine Wiedergabe des Versuchsaufbaus!)

Versuche wie dieser lassen hoffen, dass hierin ein Schlüssel zur Überwindung von Angststörungen liegt, der Millionen von Menschen bei der Alltagsbewältigung helfen könnte. Schon lange besteht die Vermutung, dass eine übermäßige Generalisierung von Gedächtnisinhalten Angststörungen auslöst. Würde durch Neurogenese die Fähigkeit gesteigert, frühere traumatische Erfahrungen von in mancher Hinsicht ähnlichen, aber ungefährlichen Situationen zu unterscheiden, könnte das einen Durchbruch in der Behandlung von Posttraumatikern und anderen Angstpatienten bedeuten.

Lange Zeit herrschte die Meinung vor, dass im erwachsenen Gehirn keine neuen Zellen mehr entstehen können – gemäß dem alten Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“. Heute wissen wir, dass auch der adulte menschliche Hippocampus täglich bis zu 1400 neue Nervenzellen hervorbringen kann. Sport und gesunde Ernährung beschleunigen diesen Prozess nachweislich.

Es gibt also keinen Grund, die Hoffnung auf Veränderung aufzugeben – egal in welchem Alter wir sind.

Mehr zum Thema Angst findest du noch in diesem Artikel: Angst und ihr Zusammenhang mit Trauma

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