Selbstverletzendes Verhalten oder auch Autoaggression wird oft in Verbindung mit Ritzen oder Schneiden gebracht. Für die Betroffenen ist es häufig mit Scham verbunden. Sie verstecken ihre Wunden oder Narben und haben das Gefühl, damit allein zu sein.
Es ist wichtig diese Selbstverletzungen als das zu sehen, was sie wirklich sind.
Ein verzweifelter Versuch sich zu regulieren und den inneren Druck irgendwie zu mindern.
Wenn nichts mehr geht
In manchen Momenten ist der innere Schmerz so groß, dass wir glauben, es nicht mehr auszuhalten. Wir fühlen uns am Boden und haben das Gefühl, verrückt zu werden oder einfach nur noch schreien zu wollen.
Und von außen sieht man: nichts!
Niemand sieht deinen Schmerz und deinen inneren Kampf. Niemand fühlt die Leere, die Scham, das Leid oder das innere Tot-Sein.
Man hat das Bedürfnis, dem Gefühl irgendwie einen Ausdruck zu geben, weil man sonst platzt oder im Nichts versinkt. Manchmal scheint dann selbstverletzendes Verhalten als der einzige Weg: Ein Ventil für den Schmerz, den man nicht mehr aushalten kann.
Was ist selbstverletzendes Verhalten
Nicht-suizidales, selbstverletzendes Verhalten wird im ICD 10 nicht als eigenes Störungsbild benannt. Die autoaggressive Schädigung der eigenen körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit erscheint eher in den Symptombeschreibungen psychischer Erkrankungen.
Hier wird sie als affektive Dysregulation benannt, eine Störung, die erst seit wenigen Jahren offiziell anerkannt ist.
Besonders häufig kommt es im Rahmen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu Selbstverletzungen. Aber natürlich hat nicht jede Person, die sich selbst verletzt, eine Borderline-Störung.
Selbstverletzendes Verhalten findet man unter anderem auch bei:
- Depressionen
- Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS)
- Ess-, Zwangs- oder Angststörungen
- mangelndem Selbstwertgefühl
- der Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken und
- schwach ausgeprägten Selbstregulierungskräften.
Symptome von selbstverletzendem Verhalten
Autoaggressives, selbstverletzendes Verhalten beinhaltet eine ganze Reihe von Handlungen, bei denen sich die Betroffenen Verletzungen oder Wunden zufügen oder ihrem Körper und ihrer Gesundheit auf andere Art schaden. In der Psychologie bezieht man sich hier meist auf das Ritzen oder Schneiden.
Wenig beachtet ist hingegen die weite Verbreitung von Selbstschädigung, die gesellschaftlich eher akzeptiert und zum Teil schon normal sind.
Auch stundenlanges Sitzen vor dem Computer, Zigaretten, Alkohol oder ungesundes Essverhalten schaden uns. Manche Menschen strapazieren ihre Gesundheit durch exzessiven Sport oder zu vieles Arbeiten.
Manchmal zerstören wir eine Beziehung, weil wir Angst vor der Nähe haben und schaden uns auf diese Art und Weise.
Unter selbstverletzendem Verhalten liegt in der Regel das tiefe Bedürfnis, dem ständigen inneren Druck ein Ventil zu geben. Woher dieser Druck kommt, ist sehr unterschiedlich und individuell.
Wenn du anfängst, genauer zu schauen, an welchen Punkten du deine Handlungen gegen dich selbst richtest, dann kannst du besser erkennen, wo du wirklich etwas verändern kannst.
Gründe für selbstverletzendes Verhalten
Für mich gehört selbstverletzendes Verhalten – ebenso wie Dissoziation – zu den Überlebensressourcen.
In Traumatherapien ist viel von Ressourcen die Rede. Allerdings wird weniger beleuchtet, dass es sehr unterschiedliche Qualitäten von Ressourcen gibt. Im Alltag nutzen wir diese Ressourcen, um uns zu regulieren, damit wir gut oder einigermaßen durch den Tag kommen.
Funktionale Ressourcen helfen uns nicht nur, uns zu regulieren. Sie sind auch gut für uns.
Dysfunktionale Ressourcen oder Überlebensressourcen helfen uns ebenfalls, uns zu regulieren. Aber sie kosten uns auch etwas. Das sind zum Beispiel Handlungen wie Fernsehen, vor dem Computer versacken oder Schokolade in uns hineinzustopfen.
Je nachdem, ob wir in einer andauernden Übererregung sind oder unser Nervensystem in einem ständigen Erschöpfungszustand ist: Wenn es uns zu viel wird, brauchen wir etwas, das uns reguliert.
Fehlen uns die Alternativen, dann greifen auf das zurück, was wir kennen.
Es gibt also zwei sehr gegenpolige Gründe für selbstverletzendes Verhalten:
- Spannungsabbau aus einer Übererregung heraus
- Sich bei innerer Leere wieder fühlen wollen
Ein dritter Punkt kommt hinzu, wenn wir Autoaggressionen als Mittel zur Selbstbestrafung benutzen.
Weil der Druck nicht mehr auszuhalten ist
Unser Leben und unsere Handlungen sind ständig von Gefühlen begleitet.
Ob wir sie bewusst wahrnehmen oder nicht: Wir können nicht nichts fühlen. Wir können Gefühle aber so abspalten, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen. Sie agieren dann im Untergrund, unbewusst.
Problematisch wird es, wenn sich bestimmte Gefühlslagen so verfestigen, dass sie sich kaum noch verändern. Wir werden innerlich hart oder starr und es kann sich ein Druck aufbauen, der eine unerträgliche innere Spannung erzeugt.
Dann kann eine Verletzung ein Ventil sein. Es fühlt sich für eine kurze Zeitspanne wie eine Erlösung an.
Leider lernt unser Gehirn schnell: Durch diese Handlung kommt Entspannung!
Eine große Rolle spielen dabei die einsetzenden Körperreaktionen: Angefangen von den ausgeschütteten Botenstoffen über muskuläre Reaktionen bis hin zu einer veränderten Atmung oder ruhigerem Herzschlag. Es kommt also zu einer kurzfristigen Information: Jetzt ist alles in Ordnung. Ich entspanne mich.
Steigt der Druck wieder an, dann beginnt der Kreislauf von vorn. Wir sind gefangen in einer Spirale aus selbstschädigendem Verhalten und kurzfristiger Erlösung. Unter dem Druck von starken Belastungen nimmt autoaggressives Verhalten oft zu. Beispiele dafür sind Ängste, Sorgen oder das Wegfallen von sozialen Kontakten und eigenen Ressourcen.
Selbstverletzendes Verhalten sorgt bei überwältigenden emotionalen Zuständen für eine kurzfristige Erleichterung. Es ist also der Versuch, sich aus einem starken, unangenehmen Gefühlszustand zu befreien.
Weil ich mich selbst nicht mehr fühlen kann
Ein anderer Auslöser kann das Gefühl von Taubheit und innerer Leere sein, aus dem die Betroffenen entkommen möchten.
Selbstverletzendes Verhalten wird als Versuch eingesetzt, dieses Erleben von Dissoziation und Selbstentfremdung zu beenden, um sich selbst wieder zu spüren.
Auch hier steigt der innere Druck so stark an, dass der Drang, sich selbst zu verletzen als unumgänglich wahrgenommen wird.
Weil ich es nicht wert bin, liebevoll behandelt zu werden
Autoaggressionen bei Erwachsenen können auch ein Mittel zur Selbstbestrafung sein.
Werden wir als Kinder nicht liebevoll behandelt und gespiegelt, dann entsteht in uns ein verzerrtes Bild von uns selbst. Schlimmstenfalls erzeugt es Selbsthass. Als Folge haben manche Menschen den Zwang, sich immer wieder selbst bestrafen zu müssen. Oft folgt das Gefühl nach einem Erlebnis, bei dem wir glücklich oder stolz auf uns waren.
Dann meldet sich automatisch der innere Kritiker, der diese Erfahrungen herunterspielt oder ins Gegenteil verkehrt.
Auch hier lohnt sich ein Blick unter die Oberfläche.
Welche Annahmen oder Glaubenssätze verbergen sich tatsächlich dahinter? Sind sie heute überhaupt noch relevant und sinnvoll?
Wenn du dazu neigst, dich mit selbstschädigendem Verhalten zu bestrafen, dann kannst du mit der Zeit herausfinden, welcher Sinn dahinter liegt.
Ist es tatsächlich deine Überzeugung oder hast du das Verhalten übernommen, weil du so behandelt wurdest? Als Kinder haben wir selten eine andere Referenz und kommen schnell zu der Überzeugung, dass wir es nicht anders verdient haben. Dass dieses Bild längst veraltet ist, bemerken wir nicht und übernehmen eine Stimme, die nicht unsere ist.
Mach dir klar, dass du nichts falsch gemacht hast! Erkenne, wo du heute stehst und beginne, alte Glaubenssätze aufzulösen.
Was hast du schon erreicht und warum bedeutest du anderen Menschen etwas?
Traue dich, sie zu fragen. Dann bekommst du ein farbigeres Bild von dir selbst und siehst deine liebenswerten Seiten viel klarer.
Der Ausstieg aus der Spirale
Ich zähle selbstverletzendes Verhalten zu den Überlebensressourcen. Solange es das einzige Mittel bleibt, das wirklich hilft, werden wir im Notfall immer darauf zurückgreifen.
Um nach und nach aus dieser selbstzerstörerischen Schleife auszusteigen, brauchst du eine Alternative, die das Gleiche bewirkt.
Beobachte, wann der Impuls kommt, dann kannst du es mit Alternativen versuchen.
Wir unterschätzen oft, wie ablenkbar unser Gehirn ist! Wenn wir uns in diesen Momenten ablenken können, dann ist der Impuls oft weg.
Welche Handlungen dir dabei helfen, kannst du nur selbst herausfinden.
Gut ist alles, was du in deinen Alltag etablieren kannst. Es geht darum, neue Gewohnheiten zu schaffen, die stark genug sind, dich von den gewohnten Pfaden abzubringen.
Das erfordert Geduld und Durchhaltevermögen.
Sei experimentierfreudig! Durch das regelmäßige Ausprobieren wirst du immer neue Impulse finden.
Wichtig ist, die negative Bewertung und das Tabu wegzunehmen! Du wirst wahrscheinlich immer mal wieder auf das Altbewährte zurückgreifen, auch wenn du weißt, dass es dir schadet. Das ist nicht schlimm.
Am Anfang ist es wichtig zu schauen: Welche Art von selbstverletzendem Verhalten praktizierst du und welche Alternativen könntest du etablieren?
Verabschiede dich von dem Gedanken, dass du autoaggressives Verhalten durch reine Willenskraft abstellen kannst oder dass es für immer verschwindet. Es gibt Phasen oder Situationen im Leben, wo unsere Kraft dafür einfach nicht ausreicht.
Nimm es zur Kenntnis und sei liebevoll zu dir.
Ein weiterer wichtiger Weg ist zu lernen, deine Gefühle besser zu regulieren. Dann kommst du immer seltener in Situationen, in denen du eine schnelle Entlastung brauchst.
Was ist Selbstregulation? Welche Strategien passen zu mir? Zum Thema Selbstregulation findest du sehr viel Material in meinen Beiträgen und Videos.
Ich hoffe, ich konnte dir einen neuen Blick auf das Thema zeigen und auch Wege aus diesem selbstzerstörerischen Umgang mit dir selbst.
Falls du mehr Unterstützung möchtest, dann ist mein Kurs „Mit Trauma leben“ vielleicht etwas für dich. Dort lernst du mehr Selbstregulation und Mitgefühl für dich.
An dieser Stelle möchte ich dir noch folgende meiner Blogartikel empfehlen:
- Was ist psychische Gesundheit?
- Der innere Beobachter: das Beobachter-Ich