Wenn etwas nicht zu sehen ist – die Wirkung von Tabus auf unser Leben
Über Tabus zu sprechen hat etwas Paradoxes, denn das Merkmal eines Tabus ist, dass es nicht thematisiert wird. Etwas wirkt also in deinem Leben, kann aber nicht benannt werden. Es fühlt sich mitunter wie ein blinder Fleck an und es fällt schwer zu formulieren, worum es eigentlich geht.
Ein Tabu ist qua Definition etwas, das es nicht gibt, nicht geben darf oder geben kann. Wikipedia:Tabu Es kann so starke Auswirkungen haben, dass Menschen, die es betrifft, nicht sehen können, was vor ihren eigenen Augen passiert.
Tabus sind sehr mächtig und haben unter Umständen große Wirkungen auf ganze Gesellschaften oder Familien (kollektive Tabus), bei denen ein bestimmtes Thema ausgrenzt wird. Außerdem können sie über Generationen hinweg weitergegeben werden.
Aber auch in dir selbst können sie entstanden sein. Aus diesem Grund ist es wichtig, sensibel ein Bewusstsein für tabuisierte Gedanken, Ereignisse oder Verhaltensweisen zu entwickeln. Denn ein Tabu verbietet mir quasi, mich damit auseinander zu setzen und das Abgespaltene zu integrieren.
In diesem Video versuche ich das Thema und seine Wirkung auf dein Leben tiefer zu verdeutlichen:
Es kann nicht sein, was nicht sein darf!
Das Brechen von Tabus ist meist hochgradig mit Scham besetzt und macht es dem Einzelnen entsprechend schwer, den Vorhang zu lüften und das „Tabu zu brechen“. Meist stellt man sich damit gegen eine Gruppe oder sogar gegen die eigene Familie. Und wir wissen alle, wie schwer das ist.
Ein Beispiel: Eine Freundin von dir wird von ihrem Freund geschlagen und du bemerkst es nicht. In der Welt, in der du dich bewegst, kann Gewalt so tabuisiert sein, dass du gar nicht hingucken kannst. Du siehst die Zeichen, aber du deutest sie nicht, obwohl sie für andere Menschen ganz leicht zu deuten wären. In diesen Fällen haben wir es mit einem Tabu zu tun.
Manchmal formen wir auch selbst Tabus.
Ein häufiges Phänomen ist die Bildung von Tabus bei Menschen mit Gewalterfahrungen. Sie setzen ein Tabu auf ihr Verhalten und verbieten sich beispielsweise, aggressiv oder wütend zu sein. Es gibt dabei dann ein strenges moralisches System, dass wir uns auferlegen. Alles, was in die Nähe des Tabus rückt, wird bewertet und schnell als dem Tabu zu nahe angesehen.
Beispielsweise ahnden manche sehr schnell, wenn sie sich mal durchgesetzt haben oder jemandem gesagt haben, dass ihnen etwas nicht gefällt. Sie haben oft ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre schreckliche Gewalterfahrungen und alles, was dem nahe kommt, nicht weitergeben möchten.
Das kann soweit gehen, dass wir uns daran hindern, bestimmte Dinge überhaupt zu denken, obwohl sie nichts mit Aggressivität zu tun haben. Unsere Verknüpfung damit kann aber so stark sein, dass wir alles vermeiden, was wir mit Aggressivität verbinden.
Wie kann ich eigene Tabus wahrnehmen?
Tabus im Denken oder im Fühlen hindern uns daran, bestimmte Dinge in uns wahrzunehmen. Deshalb braucht man einen Spiegel von außen, der einem hilft hinzuschauen. Jemanden, der/die liebevoll reflektiert, dass wir bestimmte Verhaltensmuster haben, die uns und anderen nicht gut tun. Und die uns fragen, warum dies so ist. Denn dadurch können wir unseren eigenen Tabus auf die Schliche kommen.
Die Konturen erforschen
Die Mithilfe von anderen zu nutzen ist praktisch, aber nicht jedem möglich. Was ich tun kann, wenn mich andere nicht spiegeln, ist in die Selbstbeobachtung zu gehen. Ein Tabu ist wie ein blinder Fleck. Wir haben große Probleme zu erkennen, worum es sich dabei handelt. Was wir aber dennoch tun können, ist zu schauen, welche Konturen dieser blinde Fleck oder mein Tabu hat.
Es helfen manchmal Fragen, die du dir selbst stellen kannst:
- Weiche ich bestimmten Dingen immer wieder aus?
- Kommen bestimmte „Geschmacksrichtungen“ immer wieder vor?
- Bekomme ich Feedback von anderen über mein Verhalten und habe ich Probleme, dem auf den Grund zu gehen?
- Passieren mir manchmal Dinge, die mir eigentlich nicht gefallen, und ich weiß gar nicht, wie sie zustande kommen?
Ich sehe also die Konturen von dem Tabu in meinem Leben. Von diesen Konturen aus kann ich anfangen zu forschen. Was steckt dahinter? Tu dies bitte mit ein bisschen Neugier und nicht gleich mit dem Gefühl, ‚ich bin schlecht‘ oder ‚ich habe etwas falsch gemacht‘. Bring ein bisschen Forschergeist ins Spiel und sage dir ‚das ist ja spannend, da ist irgendetwas, was ich nicht wirklich fassen kann. Was mag das wohl sein?‘.
Den Zeitsprung in der Geschichte
Bei Familiengeheimnissen oder Tabus werden bestimmte Dinge in der Geschichte einfach ausgelassen. Die Menschen erzählen ihre Geschichte und dann ist da ein Zeitsprung. Der ist dir nie aufgefallen, weil es so normal in deiner Familie ist, dass diese zwei Jahre ausgelassen werden. Das ist, als wäre an dieser Stelle etwas ausgelöscht. Wir kennen das zum Beispiel von Verwandten, die im Krieg waren. Sie möchten nicht darüber sprechen und niemand will sie in die Situation bringen, weil es unangenehm werden könnte.
Durch traumatische Erlebnisse können viele Tabus entstehen oder Traumata werden auch durch tabuisierte Handlungen im sozialen Kontext erzeugt.
(Sexuelle) Gewalt ist häufig tabuisiert, vor allem innerhalb der Familie. Ein Elternteil missbraucht die Kinder und der andere Elternteil schweigt ebenso wie die gesamte Familie. Alle wissen und fühlen, dass etwas wirklich schief läuft und Menschen leiden. Aber da es nicht sein darf, will sich auch niemand damit auseinandersetzen.
Das innerliche Ausweichen
Wenn wir Situationen oder Erlebnisse hören, die zu schlimm sind, fangen wir an, mit uns zu diskutieren, ‚das kann doch nicht sein‘ oder ‚das ist erfunden‘. Daran merken wir, wie bestimmte gesellschaftliche Tabus in uns wirken. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Wir müssen immer wieder darauf achten, wenn das geschieht. Ich versuche auch in meiner Arbeit aufmerksam damit zu sein, wenn mich selbst dieses Gefühl ereilt. Es ist ein Mechanismus zum Selbstschutz, aber verdeckt manchmal wichtige Geschehnisse, die uns helfen, uns zu verstehen.
Deshalb ist es auch sinnvoll, Freunde und Verwandte auf die Mechanismen von Tabus aufmerksam zu machen. Oder sie zumindest darauf hinzuweisen, wenn sie innerlich ausweichen.
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