Trauma: Sexualität und Begehren können darunter leiden
Frühe Verletzungen, Schock-, Entwicklungs- und Bindungstraumata hinterlassen ihre Spuren auf vielerlei Arten. Fast nirgendwo ist dies für Betroffene spürbarer als in Beziehungen und Sexualität.
Oftmals herrscht in diesem Bereich auch Verwirrung und Unsicherheit und es ist für viele Menschen schwer, Fragen zu stellen, um ihre Unsicherheit zu klären – selbst für Klienten und Klientinnen in einer Therapie. Aus diesem Grund möchte ich mich in diesem Blogartikel der Thematik Trauma und Sexualität annehmen.
Schwierigkeiten mit der Sexualität: Woher kommen die Beschwerden?
Es gibt bei diesem Thema verschiedene Komponenten, die für Menschen mit Traumatisierung oft sehr schwierig sind und Fragen aufwerfen. Wie diese Frage beispielsweise: „Ich habe Schwierigkeiten mit meiner Sexualität, aber ich kann mich an nichts in meiner Kindheit erinnern. Muss es also in meiner Geschichte irgendwo einen sexuellen Übergriff gegeben haben, von dem ich nichts mehr weiß?“
Dem ist tatsächlich nicht so. Es ist nicht zwangsläufig so, dass Betroffene, „nur“ weil sie Schwierigkeiten im Bereich der Sexualität haben, auch zwangsläufig sexuelle Gewalt erlebt haben müssen.
Für die Fragestellung, ob ein Trauma die Sexualität negativ beeinflusst gilt also Folgendes: Es besteht die Möglichkeit, dass die Schwierigkeiten und Belastungen mit einer verdrängten Gewalterfahrung zusammenhängen. Aber es muss nicht sein.
Erleben von Nähe
Wie Körperkontakt und Berührung funktionieren, lernen wir bereits im Säuglingsalter. Menschen, die Körperkontakt nur selten oder auf eine grenzüberschreitende Weise erlernt haben, erleben Berührungen später oft eher als unangenehm und überflutend. Dabei spielen unsere Kapazitäten und Assoziationen mit Nähe eine große Rolle. Wie habe ich Nähe kennengelernt? Habe ich dazu angenehme oder eher unangenehme Erinnerungen?
Wie der Körper sich erinnert
Trauma und Sexualität funktionieren auf der Ebene von Erregungsstufen.
Das heißt, in meinem Körper werden Erinnerungen gespeichert und eine Kategorie davon ist, wie viel Erregung in dieser Erfahrung war. Wie viel Stress oder Aufregung beinhaltete dieses Erlebnis?
So kann es sein, dass ein traumatisches Erlebnis, das mit einer hohen Erregung im Körper verbunden ist, neben einem Fallschirmsprung (der meiner Vorstellung nach auch ganz viel Erregung beinhalten muss) abgespeichert ist. Folgend kann es dazu kommen, dass ich nicht unterscheiden kann, ob es sich bei Erlebnissen, die einen hohen Erregungslevel im Körper auslösen, um ein positives Erlebnis handelt oder eher nicht. Auf diese Weise kann ein Trauma die Sexualität manipulieren. Denn der Körper nimmt bei neuen Erlebnissen, die einen ähnlich hohen Erregungsstand haben, nun fokussiert die hohe Erregung wahr und fühlt sich an das traumatische Ereignis erinnert.
Er sagt mir: „Hey, jetzt kriegen wir Stress, das kennen wir schon! Wenn die Erregung so hoch ist, kommt da nichts Gutes bei heraus“ und er löst Angst aus. Das muss nicht von sexueller Gewalt kommen, sondern kann ein völlig anderes traumatisches Erlebnis gewesen sein. Wir sind dann oft völlig erstarrt, bekommen Angst oder dissoziieren, obwohl das, was wir gerade tun, eigentlich schön sein sollte. Trauma und Sexualität sind dann nicht mehr voneinander zu trennen.
Aus diesem Grund kann es sein, dass wir diesen Ablauf auch in unserem Sexualleben erfahren, Stress bekommen und dann aufgrund der Belastung emotional und/oder körperlich erstarren.
An dieser Stelle sei kurz auf meinen Blogartikel zum Thema Trauma und Dissoziation hingewiesen.
PTBS und Sexualität
Gleichermaßen kann sich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) negativ auf unser Sexualleben auswirken, insbesondere, wenn diese auf sexuelle Gewalt, Übergriffe oder Vergewaltigungen zurückzuführen ist. Trauma und Sexualität sind hier besonders eng verwoben. Neben den körperlichen Beschwerden haben Betroffene meist auch mit psychischen Belastungen zu kämpfen. Emotionale Beschwerden und Störungen nach einer sexuellen Gewalterfahrung können unter anderem sein:
- Libidoverlust
- Angstzustände
- Distanziertheit
- Selbstzweifel
Sexuelle Gewalt ist übrigens kein rein weibliches Problem. Auch wenn ein Großteil der Betroffenen Frauen sind, erleben auch Männer und Transpersonen sexuelle Gewalterfahrungen. Für Männer als Opfer sind traumatische Erfahrungen dieser Art häufig noch stärker tabuisiert. Eine medizinische Untersuchung oder Behandlung der PTBS (etwa durch Therapie-Angebote der Psychotherapie) werden dadurch zusätzlich erschwert.
Sexualität und Begehren in unserer Kultur
Ein wesentliches Problem bei der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Trauma und Sexualität ist der öffentliche Umgang mit sexuellen Aspekten. In nahezu allen Gesellschaftsbereichen sind diese mit Scham besetzt. Sexualität ist ein Tabuthema, Bedürfnisse und Wünsche werden nicht thematisiert. Gleichzeitig aber leben wir in einer völlig übersexualisierten Welt, die kulturell kaum noch echte nichtsexuelle Berührung „zulässt“. Anders gesagt: Wer heute keine Beziehung hat, erfährt kaum noch Berührung und Körperkontakt.
Hinzu kommt, dass in Beziehungen und ähnlichen Verbindungen Intimität und Sexualität oft durcheinandergeworfen werden. Menschen, die Schwierigkeiten mit Nähe haben, neigen dazu, eine Sexualität ohne Intimität zu leben. Sie beschränken sich auf den körperlichen Akt, ohne ihrem Partner/ihrer Partnerin nahe zu kommen, also Intimität zuzulassen.
Außerdem wird Berührung jeder Art häufig als Auftakt oder Einladung zu sexuellen Handlungen gesehen. Aus diesem Grund vermeiden Menschen selbst in ihren Partnerschaften Berührungen. Dieser gesellschaftliche Kontext darf bei einer ganzheitlichen Untersuchung der Korrelation zwischen Trauma und Sexualität nicht unter den Tisch gekehrt werden.
Wie sexuelle Energie wirkt
Sexualität ist außerdem immer überwältigend, wenn eine Person in sexueller Erregung ist und die andere nicht, weil Sexualität einfach instinkthaft und als Energie sehr massiv ist. Deswegen können zum Beispiel viele Betroffene gar nicht glauben, dass „eigentlich nichts passiert“ ist, sondern „nur“ Energie gerichtet worden ist. Das reicht bereits zur Störung der Sexualität. Und es ist auch nicht „eigentlich nichts passiert“, es ist etwas passiert! Denn allein, wenn eine erwachsene Person sexuelle Energie auf ein Kind richtet, ist das schon überwältigend und wird Folgen haben. Sehr wahrscheinlich zumindest.
Auf meinem Blog beschäftige ich mich neben dem Zusammenhang von Trauma und Sexualität mit vielen weiteren Themen. An dieser Stelle möchte ich dir meinen Artikel zum Thema Trauma-Symptome und -Beschwerden ans Herz legen.
Trauma und Begehren
Ein weiteres wichtiges Feld, welches durch Trauma und Entwicklungstrauma eingeschränkt wird, ist das Begehren.
Begehren wird in unserer Kultur meist nur in einem sexuellen Kontext verstanden. Sexuelles Begehren kann Teil dessen sein, doch Begehren ist ein viel umfassender Begriff. Begehren bedeutet nach etwas greifen zu wollen, etwas zu sich hinziehen wollen. Es ist im weitesten Sinne ein körperlicher Akt des “Habenwollens”. Dabei kann sehr unterschiedlich sein, was eine Person jeweils intern oder im Kontext mit anderen Menschen begehrt.
Wichtig im Hinblick auf Trauma und Sexualität ist, dass ein Mensch ein Bedürfnis fühlen muss, um zu begehren. Diesem Bedürfnis muss Ausdruck verliehen werden, damit es sich in der Welt realisieren kann.
Freude am Entdecken
Begehren geht einher mit der Freude, etwas zu entdecken und mich in die Welt hinauszuwagen. Begehren ist sehr eng mit dem Explorationsverhalten verwandt: Mit Neugier, mit der Lust auf Unbekanntes, mit dem in die Welt gehen und etwas von der Welt wollen. Ein Kind zeigt verstärkt dann exploratives Verhalten, wenn es sich sicher ist, dass die Bindungsperson jederzeit verfügbar ist, um emotionale Unruhezustände auffangen zu können.
Trauma als Gegensatz zum Begehren
Und damit schließt sich der Kreis zu frühen Verletzungen und Entwicklungstrauma. Hier wird deutlich, weshalb ein Trauma die Sexualität negativ beeinflussen kann:
Trauma und unsichere Bindungen führen meist dazu, dass das Kind nicht mehr freudig die Welt entdecken kann. Es traut sich nicht, da ihm der sichere Boden bzw. der Schutz durch die Bezugsperson fehlt. Eine Störung des Explorationsverhaltens ist die Folge. Das gilt auch, wenn die Bezugsperson signalisiert, dass es besser ist, dort zu bleiben, wo man schon alles kennt, da die Welt ein gefährlicher Ort ist.
Ein toller englischer Vortrag dazu von Esther Perel
(Für deutsche Untertitel befindet sich im unteren Rahmen des Videos rechts eine Symbolleiste. Klicke auf das Symbol, das aussieht wie eine Sprechleiste und stelle ‚deutsch‘ ein.)
Sicherheit wird wichtiger als Lebendigkeit
Die Verbindung von Trauma und Sexualität kann bis ins Säuglingsalter zurückreichen. Wenn wir als Säuglinge oder Kleinkinder nicht liebend angenommen wurden oder beispielsweise nach der Geburt im Brutkasten waren, haben wir beängstigende Erfahrungen gemacht. Wenn wir so früh schon so allein gewesen sind, dann zieht sich unsere Lebensenergie in die Knochen zurück. Das Verrückte und sehr Traurige ist, dass wir dann Begehren und Expansion (Ausweiten) mit Vernichtung assoziieren. Ich denke dann, wenn ich mich öffne, kommt mit Sicherheit Vernichtung.
Darin liegt viel Lebenstragik. Aber es ist gut, das zu wissen. Du kannst so besser einordnen, dass nichts falsch mit dir ist, sondern es die Auswirkungen von Trauma auf deine Sexualität sind. Unsere Exploration, unsere Expansion wird verhindert und damit auch unser Begehren dem Leben oder einer anderen Person gegenüber.
Und es wirkt sich auch in unserer Sexualität aus, die ja eigentlich ein Ausdruck von Lebensenergie ist, von Lust und von Freude an einem anderen Menschen.
So lernen Kinder früh, sich für Sicherheit statt Expansion zu entscheiden, für Rückzug statt Exploration.
Schutz vor Demut und Abhängigkeit
Ein weiterer Faktor, der unsere Lust an der Welt und unser Begehren negativ beeinflusst, kann der Mangel an Fürsorge und Erfüllung der Grundbedürfnisse sein. Entscheidend für einen Zusammenhang von Trauma und Sexualität: Unsere körperlichen und/oder seelischen Bedürfnisse werden nicht erfüllt, sie sind scheinbar unwichtig für die Bezugspersonen. So bleiben Kinder ständig „hungrig“ und manche entscheiden dann sehr früh, dass sie nicht auf andere angewiesen bleiben wollen. Sie beschneiden und verleugnen ihre Bedürfnisse, um sich nicht mehr abhängig oder gedemütigt zu fühlen. Dies alles kann dazu führen, dass Menschen nichts mehr wollen. Sie hören auf zu begehren, sie geben sich zufrieden und ihr höchstes Gut wird die eigene Sicherheit.
Reicht dir das?
Für manche Menschen kann das ein zufriedenstellendes Leben sein. Für andere fühlt es sich nach einem begrenzten, eingeengten Leben an.
Diese Enge kann sich auf Liebesbeziehungen auswirken, weil auch dort das Begehren nach kurzer Zeit einschläft und der Sicherheit geopfert wird. Das „Wollen“ des anderen wird eingestellt. Die Auswirkungen des Traumas auf die Sexualität können dann zu elementaren Problemen in einer sexuellen Liebesbeziehung führen.
Gerade Liebesbeziehungen bestehen aus der Vereinigung des Paradoxen: Wir suchen und verlieben uns in das Fremde und Aufregende im Gegenüber und wollen dann das Vertraute und Sichere. Nur wenn beides sein darf, bleibt eine Beziehung lebendig.
Das sind die Reibungspunkte, wo es eng wird und worin viel Schmerz und Angst stecken.
Vielleicht hilft es dir ein bisschen, dich besser zu verorten, dich besser zu begreifen und ein bisschen mehr Mitgefühl mit dir zu haben. Wenn du das schaffst, habe ich mein Ziel erreicht.
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