Trauma und Gemeinschaft – ein Erfahrungsbericht

Dieser Text ist schon vor einigen Jahren entstanden und ich habe mich immer gescheut ihn zu teilen. Doch nun habe ich das Gefühl, dass einerseits für die Betroffenen schon einige Zeit vergangen ist (mehr als 10 Jahre) und es andererseits ein Thema ist, was immer wichtiger wird. Vor allem, da es immer noch nur wenige sinnvollen Konzepte gibt. Der Text gilt für alle Arten von Traumatisierungen, denen wir begegnen. Für mich war meine Arbeit für die Gemeinde, in der Felix verschwunden ist, und auch für die Gemeinde, in der vorher schon Levke verschwunden war, ein tief berührendes Schlüsselerlebnis, das ein Auslöser für die unten geschilderten Gedanken war.

„Felix (8) hatte sich zum Spielen verabredet. Am Sonnabend war er zu Hause in Neu Ebersdorf (Landkreis Rotenburg/Wümme) auf sein kleines gelbblaues Fahrrad gestiegen und losgeradelt. Er wollte an seiner Schule in Hipstedt einen Freund treffen. Der blonde Junge mit dem offenen Lachen durfte das, er war immer sehr zuverlässig. Um fünf Uhr, hatte seine Mutter ihm mitgegeben, sollte er wieder daheim sein. Es wird früh dunkel.
Doch Felix ist nicht zurückgekommen. Wieder ist ein Kind in Deutschland verschwunden“ – Zitat aus einem Artikel von Von Hanna-Lotte Mikuteit

Immer wieder sehen wir eine solche Nachricht in den Zeitungen. Wir bedauern kurz die Eltern und versuchen uns nicht zu sehr vorzustellen, was dem Kind geschehen sein könnte. Dann gehen wir in unserem Alltag weiter, vielleicht sind wir eine Zeitlang ängstlicher um unsere Kinder, wenn wir welche haben, und wahrscheinlich verfolgen wir die Suche in den Zeitungen. Ein vermisstes Kind lässt viel Raum für Phantasien und es ist uns ein Bedürfnis das Ende der Geschichte zu erfahren.

Das Verschwinden und die Ermordung eines Menschen – und insbesondere eines Kindes – ist unbestreitbar ein traumatisches Ereignis. In welchem Maße es das ganze Kollektiv betrifft, in dem das Kind lebt, darüber gibt es kaum Studien.

Hipstedt ist ein kleiner, idyllischer Ort in der Nähe von Cuxhaven. Ein Ort, in dem praktisch noch jeder jeden kennt. Ein Ort, in dem es schwierig ist, ein solches Ereignis in Anonymität verschwinden zu lassen. Es ist ein Ereignis, das sich in seiner Wirkung in der Gemeinde ausbreitet und traumatische Kreise zieht, wie ein Stein, der in einen Teich geworfen wird.

An einem Nachmittag erhielt ich den Anruf

An einem Nachmittag erhielt ich den Anruf, ob ich der Gemeinde zur Verfügung stehen könnte als Ansprechpartnerin für all die Fragen und Ängste, die durch Felix‘ Verschwinden ausgelöst worden sind. Der Pfarrer der Gemeinde bat mich zu mehreren Gemeindeversammlungen, die er für die Eltern des Ortes organisierte.

Durch diesen Auftrag kam mir das Verbrechen, über das ich nur in der Zeitung gelesen hatte, auf einmal sehr nah. Ich versuchte mich vorzubereiten, indem ich alle Informationen sammelte, die in den Zeitungen zur Verfügung standen. Ich druckte das Bild mit der Suchmeldung von Felix aus und legte es auf meinen Schreibtisch. Mit klopfendem Herzen fuhr ich eine Woche später nach Hipstedt.

Telefonisch hatte ich mit dem Gemeindepfarrer besprochen, wie wir den Abend gestalten könnten. Die Versammlung sollte den eingeladenen Eltern der dortigen Grundschule, zu der auch Felix ging, Raum dafür geben, mit ihren Sorgen und Ängsten gehört zu werden.

Die Gemeinschaft braucht 7 Generationen, um zu heilen

Hier stellte sich mir die Frage, welche Ansätze es gibt oder in Zukunft entwickelt werden müssen, um eine ganze Gemeinde zu heilen. In indianischen Kulturen heißt es, wenn einem Mitglied des Dorfes etwas geschieht, braucht die ganze Gemeinschaft sieben Generationen, um zu heilen. In unserer Kultur behandeln wir traumatische Folgen bisher nur individualistisch, d.h. jede einzelne Person muss therapeutisch behandelt werden. Wenn große Gruppen betroffen sind, stellt uns dieses Konzept vor fast unüberwindbare Schwierigkeiten.

Diese Frage der kollektiven Bewältigungsmöglichkeiten zog sich durch die ganze Zeit meiner Einsätze in Hipstedt. Als Menschen sind wir Herdentiere und starke Emotionen haben die Fähigkeit „überzuspringen“. Emotionen sind in gewisser Weise ansteckend. Erschreckt sich jemand in unserer Nähe, so schrecken wir mit auf oder schauen zumindest aufmerksam, um die Ursache zu entdecken und Gefahren abzuschätzen. Dies war und ist notwendig, um das Überleben der Gemeinschaft zu sichern. Genauso wie Ohnmacht oder Ekel sich in einer Gruppe ausbreiten kann, so kann sich auch eine Gruppe gemeinsam heilen. In unserer Gesellschaft, die sich größtenteils als gemeinsam lebende Individuen sieht, wird dieser heilende Aspekt von Gemeinschaft meist bagatellisiert.

Der Schlüssel zur Bewältigung: Gemeinschaft

Wir entwickelten die Idee eines Treffens im Gemeindesaal, zu dem außer mir noch andere externe Fachleute eingeladen waren. Bei diesem Treffen war mir wichtig, dass es eine Stuhlkreisanordnung gab mit Blumen in der Mitte und dass die externen „Experten“ nicht zusammen saßen. Es sollte auf keinen Fall ein Gefühl von Wir-Betroffen hier und Ihr-Fachleute dort aufkommen.

Der Pfarrer wollte als Willkommen als erstes ein Gedicht vortragen. Er hat sich für den Liedtext „sind so kleine Hände“ entschieden. Anschließend wollten wir die Anwesenden bitten, sich mit ihren Nachbarn zu unterhalten und auszutauschen. Es ging mir darum, ein Wir-Gefühl anzustoßen, die Gemeinsamkeit untereinander zu stärken und nicht ein Hingewendetsein zu den „Fachleuten“.

Danach sollte Raum sein, um Ängste und Befürchtungen zu äußern, Fragen zu stellen und sich untereinander auszutauschen.

Der Stein, der ins Wasser fällt

In Hipstedt angekommen bekam ich einen ersten Eindruck von der Bewegtheit und den Auswirkungen, die das Verschwinden eines Kindes auf andere als die direkte Familie hat. Wie weit tatsächlich die Kreise der Betroffenheit ziehen. Jeder in der Gegend war tief berührt und die Ohnmacht und Hilflosigkeit war mit Händen greifbar. In einer solchen Atmosphäre wieder Boden und Verbindung, Handlungsfähigkeit und Tatkraft zu stärken, war mein erstes und wichtigstes Anliegen.

Ich war tief berührt von der Offenheit mit der die anwesenden Mütter und Väter nach einer Weile über sich sprachen und ich hatte die Ehre dabei sein zu dürfen, als viele über die Ängste und Erinnerungen, die bei ihnen durch Felix Verschwinden ausgelöst wurden, sprachen.

Wie halte ich mein Herz offen bei so viel Leid?

Die Herausforderung für mich bestand darin, bei so viel Leid mein Herz offen zu halten und dieses zu verbinden mit meinem Fachwissen. In solchen Situationen kann es meiner Ansicht nach nicht um Antworten gehen, die reines Fachwissen vermitteln. Es geht darum eine Atmosphäre zu schaffen, die Menschen darin unterstützt ehrlich zu sein und sich als normal reagierende Wesen zu begreifen, die etwas Unbegreifliches erleben. Im Laufe des Abends gelang es uns eine Atmosphäre zu kreieren, die von Wertschätzung und Gemeinschaft geprägt war und in der immer persönlichere Fragen gestellt wurden. Viele begriffen z.B nicht, warum sie auf einmal Schlafstörungen hatten, waren verzweifelt, dass eigene Erinnerungen auftauchten, in den sie Gewalt und/oder Ohnmacht erlebt hatten.

Traumatische Ereignisse knüpfen automatisch an unerledigte alte traumatische Ereignisse an und bringen diese zurück an die Oberfläche. Dies kann Ängste und Panikattacken auslösen. Viele erzählten, dass sie ganz früh die Jalousien herunterließen, um sich sicherer zu fühlen.

Die Isolation der Betroffenen

Eine große Schwierigkeit stellte der Umgang mit der Mutter von Felix dar, die meisten fühlten sich hilflos und unsicher. Diese Hilflosigkeit führt dann oft zur Isolierung der Betroffenen, dies berichten auch Menschen, die eine tödliche Krankheit haben. Dieser durch Berührungsangst und letztendlich durch die Furcht etwas falsch zu machen ausgelöste Isolierung kann nur durch aktive Einbindung und Aussprache entgegengewirkt werden.

Menschen wollen nicht die Angst und Ohnmacht fühlen, die mit solchen Geschehnissen verbunden sind, und vermeiden dann alles, was sie daran erinnert. Im Falle von Felix‘ Verschwinden konnte das Thema nicht totgeschwiegen oder verleugnet werden, da die Unsicherheit im Raum blieb. Man wusste lange nicht, was mit Felix geschehen war, noch war der Täter gefasst. Dadurch blieb die Angst immer akut, insbesondere da kurz vorher Levke aus Altenwalde verschwunden und umgebracht wurde. Altenwalde ist nur rund 40 Kilometer von Hipstedt entfernt.

So erlebte ich Menschen, die um ihre eigene Menschlichkeit kämpften, die versuchten zu begreifen, wie ein Mensch eine solche Tat begehen kann. Menschen, die nicht wussten, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollten, die sie am liebsten einsperren wollten und sich hilflos fühlten, wenn sie die brennenden Fragen ihrer Kinder beantworten sollten.

Was macht uns menschlich?

Ich durfte erleben, wie wichtig der Zusammenschluss und die Gemeinschaft der Betroffenen ist. Wie existentiell notwendig wir Verbindung mit anderen in Notsituationen brauchen, um gesund zu bleiben. Wie heilsam Glaube ist und wie zentral bedeutend und unterstützend ein engagierter Pfarrer und eine intakte Gemeinde sein kann.

Ein traumatisches Ereignis isoliert Menschen oft voneinander und von ihrem Glauben – welcher Art dieser auch sein mag. Gerade solch grausamen Taten, die von Menschen begangen werden, können wir kaum verstehen und in unsere Alltagswelt integrieren. Diese Erfahrung wirft uns aus unserer Erfahrungswelt in eine unbekannte Dimension, in der andere Regeln zu gelten scheinen. Plötzlich wird uns klar, dass wir die Welt nicht kontrollieren können, nicht mal die kleine und scheinbar übersichtliche Welt, in der wir leben.

Die Suche nach dem Sinn

Wir sind Lebewesen die sinnstiftend sind, d.h. wir müssen den Erlebnissen in unserem Leben einen Sinn zuweisen können. Grausame und sinnlose Ereignisse lassen uns an der Ordnung der Dinge zweifeln. Können menschliche Wesen das Geschehene nicht in ihre Welt einordnen, so kann es geschehen, dass Individuen und ganze Gemeinschaften in einen Kreislauf hineingeraten, der Werte verändert, z.B. wir sollten die Todesstrafe wieder einführen oder dazu führt, dass sich eine Gemeinschaft auflöst und nicht mehr an ihre eigene Kraft glaubt oder sich betrogen fühlt und aus diesem Gefühl heraus die Welt wahrnimmt.

Ein klassischer Ablauf von Gefühlen und Gedanken nach einem traumatischen Ereignis, vor allem von Traumata, die durch andere Menschen ausgelöst wurden, wird im folgenden dargestellt:

Traumatisches Ereignis – Schock, Angst, Verleugnung – Physiologische Veränderungen, z.B. Übererregung, erhöhte Aktivität des Sympathikus etc. – Realisation, Panik – Unterdrückung von Trauer und Ängsten, Dissoziation, Stumpfheit – Wut, Rage, Verlust von Sinn, Fragen nach dem Warum – Schuld überlebt zu haben, Scham und Demütigung – (erlernte) Hilflosigkeit – Wiedererleben der Ereignisse, Hypervigilanz, Intrusionen, Vermeidung von Erinnerungen – Rachephantasien, Bedürfnis nach Gerechtigkeit – [1]

Der Opfer Kreislauf

Dieser Opfer-Kreislauf hat eine starke Dynamik, die nur gemeinsam durchbrochen werden kann. Es ist uns als Individuen nicht möglich, in einer Gemeinschaft glücklich zu sein, in der viele mit Gefühlen der Hilflosigkeit, Angst und Ohnmacht zu kämpfen haben. Gerade momentan leben wir ein einer gesellschaftlichen Zeit, in der wir die Macht der „springenden Emotionen“ stark erleben. Nicht alle Menschen in Deutschland haben keinen Arbeitplatz, aber der Anteil der Arbeitlosen genügt, um die Angst vor Arbeitplatzverlust und Verlust des Status Quo auf alle überspringen zu lassen. Deswegen sind Konzepte, die Traumaheilung für ganze Gruppen möglich machen, so notwendig, denn wir leben nirgendwo allein.

Wenn du mehr über die Verlustangst, dessen Symptome und Therapie erfahren möchtest, dann schaue gerne bei meinem ausführlichen Blogbeitrag zur Thematik vorbei.


  1. [1]Nach Olga Botcharova 1988, Forgiveness and Reconciliation
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