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Warum Trauma kein individuelles Problem ist – eine Streitschrift

von | 11.07.2017 | 1 Kommentar

In unserer Gesellschaft wird Trauma und Traumatisierung grundsätzlich als individuelles Problem einer Person gehandhabt. Das hat einige Vorteile für das herrschende Gesellschaftskonzept und viele Nachteile für die Betroffenen.

Mir ist es wichtig einmal klar zu sagen, dass meiner Meinung nach Traumatisierungen aus vielen Gründen ein gesellschaftliches Problem sind. Und es für den einzelnen zusätzliches Leiden bedeutet, wenn Traumatisierungen als Individualproblem gehandhabt werden. Es macht mich wütend, dass es so ist. Es erzeugt so viel Leid!

Traumatische Ereignisse sind überall

Zunächst ist Trauma ein Fakt des Lebens. Kaum jemand bleibt von traumatischen Erlebnissen verschont. Bei Entwicklungstraumata sprechen einige Forscher eher von einem epidemischen Vorkommen, als von einem Vereinzelten. Beispielsweise die sexuelle und nicht sexuelle Gewalt gegen Kinder kann und darf nicht immer wieder als vereinzelter „Normverstoß“ gehandhabt werden. Die Zahlen sagen, dass dies einfach nicht stimmt. https://de.statista.com/themen/800/sexual-und-drogendelikte/

In jeder 3. Liebesbeziehung werden Frauen eingeschüchtert oder sind Opfer von Gewalt. Alle paar Minuten geschieht ein Einbruch und ständig werden Menschen mit Unfällen, plötzlichen Todesfällen oder Nachrichten von schrecklichen Krankheiten konfrontiert.

Jedes traumatische Ereignis schlägt Wellen. Es ist nie nur eine Person involviert. Ob wir schreckliche Dinge bezeugen müssen, weil wir zufällig anwesend sind oder ob wir später die Partner einer traumatisierten Person sind. Immer sind mehrere Menschen von einem Ereignis betroffen.

Jede/r ist individuell verantwortlich

Schieben wir die Integration oder Heilung nur den direkt Betroffenen zu, so spalten wir unsere Gesellschaft. Die Betroffenen bekommen das Gefühl, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist und sie eigentlich belastbarer sein müssten. Das Problem liegt bei ihnen. Wie in dysfunktionalen Familienstrukturen bekommt eine Person die Schuld, Verantwortung und Beschämung für alle anderen zugeschoben. Der Rest macht einfach weiter und tut so, als wäre alles normal.

Da wir mehr oder weniger in dem Glauben aufwachsen, jede/r sei für sich alleine verantwortlich, bedeutet dies, dass wir Krankheit und Leiden als unpassend empfinden. Wir sind nicht richtig. Wir haben es nicht geschafft. Alle anderen sind besser als ich (was bei näherem Hinsehen selten stimmt). Normal ist wenn man gesund und erfolgreich, schlank und sportlich, dynamisch und in Beziehung ist (,die natürlich leidenschaftlich und toll ist). Dadurch entsteht großer Druck bei jeder/m von uns, der nur ein bisschen daneben liegt.

Die Realität sieht vollkommen anders aus

Interessanterweise ist dieses von dieser Gesellschaft entworfene Bild in vielerlei Hinsicht überhaupt nicht real. In der Regel sind wir übergewichtig, überarbeitet, gestresst und im Funktionsmodus. Angststörungen und Depressionen sind inzwischen Volkskrankheiten, genauso wie Rückenschmerzen, Migräne, Schlafstörungen und andere Symptome. Die meisten Beziehungen halten im Schnitt 5 Jahre und sind oft nicht so leidenschaftlich und mit Liebe erfüllt, wie das jeder gerne hätte. Doch es macht Sinn die Bilder aufrecht zu erhalten. So fühlt sich nur jeder alleine ganz individuell falsch und Schuld an der eigenen Misere. Wir sind für uns selbst verantwortlich und suchen nach einer individuellen Lösung.

Wie, Du hast Probleme?

Menschen, die einen Todesfall von einem Freund oder Partner erlitten haben, werden oft schon nach 4 Wochen gefragt, ob es ihnen nicht mal allmählich besser geht. Frauen, die eine Vergewaltigung erlebt haben, werden komisch angeschaut, wenn sie nach 6 Monaten immer noch leiden und keine Lust haben mit jemandem auszugehen. Wir alle müssen aufpassen, dass wir nicht diesen unechten und unmenschlichen Bildern folgen und dazu beitragen, dass Einzelne sich falsch fühlen.

Wir leben in einer Schamgesellschaft

Was meine ich damit? Wir beschämen die „Opfer“, die Betroffenen. In dem wir Hilfe-Institutionen schaffen, die unangenehm sind. In denen wir das Gefühl bekommen BittstellerInnen zu sein. Es ist unangenehm, um Hilfe zu bitten. Es gibt 1000 Hürden, die eingebaut werden, damit man Hilfe bekommt. Du kannst nicht mehr arbeiten, weil Du in deiner Kindheit ständig sexuellen Übergriffen ausgeliefert wirst? Das kann nicht sein. Berentung oder Hartz4 zu beantragen ist mehr als demütigend. Auch sind behördliche Institutionen, die Hilfe leisten, meist optisch unansehnlich und unpersönlich gestaltet. Selbst Krankenhäuser.

Bist Du nicht doch irgendwie mit Schuld?

Außerdem leben wir in einer Schamgesellschaft, weil wir den Satz „blame the victim“ also das Opfer ist Schuld oder mindestens mitverantwortlich, verinnerlicht haben. Hast Du schon mal etwas geklaut bekommen? Bist Du dann gefragt worden, warum du nicht besser aufgepasst hast? Wir fragen immer (also gesellschaftlich gesehen), ob das Opfer nicht irgendwie die Tat „provoziert“ hat. Das ist Scham auslösend. Und menschenfeindlich.

So muss jede und jeder also alleine schauen, wie sie zu Unterstützung kommt. Trauma separiert uns von Gemeinschaft und Gesellschaft und diese Gesellschaft tut alles dafür, dass es auch so bleibt. Ich frage mich immer wieder warum? Da ist so wenig Nutzen für uns alle dabei.

Wie wäre es, wenn?

Wie wäre es, wenn wir Menschen ein dichtes Netz von Betreuung bieten würden. Eine freundliche Unterstützung, um wieder auf die Beine zu kommen. Allen Betroffenen das Gefühl geben, dass sie ein wertvoller Teil von uns sind, der beschützenswert ist und der auf jeden Fall wieder dazu gehören soll.

Wenn Gelder zur Verfügung stünden, damit jede und jeder die Therapieform wählen könnte, die für ihn/sie richtig ist. Ja, wenn bestimmte Gesprächsformen und Interventionsformen schon in der Schule zum Wohl aller unterrichtet werden würden. So, dass wir alle wissen, wie wir jemandem in einer Schocksituation helfen können, so dass möglicherweise gar keine Folgen entstehen.

Wenn wir Menschen, die Möglichkeit gäben sich auszudrücken und ihren Teil beitragen zu können zu einer gesellschaftlichen Gemeinschaft, die für jeden einen Platz hat.

Sicher hast Du noch andere Ideen, wie so eine Gesellschaft aussehen könnte und Vielfalt ist ja erst das, was das Leben schön und bunt macht.

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1 Kommentar

  1. ich stimme den Aussagen im Artikel zu, möchte aber noch was ergänzen. Habe den Verdacht, dass vor lauter Stress einfach keine Zeit mehr da ist, sich um andere mal zu kümmern. Dann sagt man: du brauchst professionelle Hilfe, geh doch zum Psychiater oder Therapeuten. Bei sexueller Gewalt ist die Lage für Frauen oder Kinder desolat, da Verfahren oft eingestellt werden und nur ein Bruchteil (unter 10%) der Anzeigen verurteilt werden. Oft bekommen die Täter milde Strafen. Ohne Verurteilung wird dir aber nicht geglaubt und du bekommst kein bisschen Hilfe. Dann gibt es noch die BPS-Diagnose, die ich als sehr frauenfeindlich empfinde. Den Betroffenen wird risikohaltiges Sexualverhalten vorgeworfen. So kann man bei sexueller Gewalt alle Schuld schön der Frau zuschieben, die dann hart an sich arbeiten soll. Die ganzen Kriterien von Drogensucht, Sexsucht, Manipulationslust, Drama und Erpressung mit SVV und Suiziddrohungen habe ich bei noch niemandem so erlebt, sind aber genau das, was sich der Bürger unter liderlichem Lebenswandel so vorstellt. Auch eine angebl. BPS-Patientin hat auf einer BPS Station in der Klinik keinen erlebt, auf den diese Symptome zutreffen. Ich befürchte, dass wir in einer Doppelmoral leben und auch Einschränkungen bei Frauenrechten haben, die einem erst auffallen, wenn man sex. Übergriffe und dann einen erfolglosen Marathon bei Psychiatern /Therapeuten hinter sich hat. Natürlich gibt es Kulturen, wo die Frau noch viel mehr unterdrückt wird, aber so toll, wie es den Anschein hat, ist es bei uns auch nicht, wenn man genauer hinsieht.

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