Was unser Leben bestimmt – Selbstregulation

Selbstregulation

Was ist Selbstregulation? Auf diese Frage wissen viele Menschen keine Antwort.
Und doch ist Selbstregulation eine der wichtigsten Funktionen unseres Lebens. Sie entsteht in den ersten drei Lebensjahren und ihre Qualität wird durch die Qualität der Bindung und die Qualität des Kontaktes mit unseren Bezugspersonen bestimmt.

Selbstregulation ist eine der Säulen eines erfüllten Lebens

Traumatische Ereignisse, unsichere Bindungen und frühe Verletzungen führen dazu, dass wir uns schlecht regulieren können. Das hat massive Folgen für unser Leben, unsere Selbstwahrnehmung und unsere Beziehungen. Die meisten Symptome, unter denen Menschen leiden – von Schlafstörungen über Ängste bis hin zu Depressionen, sind auf eine Dysregulation, also einen Mangel an Selbstregulationsfähigkeit zurückzuführen.

Das ist eine bahnbrechende Perspektive, denn sie bedeutet, dass viele unterschiedliche Symptomatiken, die wir erleben, nicht jeweils einen anderen Behandlungsansatz brauchen, sondern durch eine Stärkung der Regulationsfähigkeit verbessert werden können.

Die Stärke unserer Selbstregulation entscheidet über unser inneres Erleben und die Art, wie wir auf die Welt reagieren.
Sie bestimmt, wie glücklich wir sein können, wie viel Stressresistenz wir haben, wie gut wir Impulse regulieren können, wie stark wir auf stressige Reize reagieren, ob wir eine Pause zwischen Reiz und Reaktion machen können, ob wir Ziele erreichen,
wie wohl wir uns mit uns selbst fühlen, wie sozial umgänglich wir sind.

Eine gute Selbstregulation bedeutet

  • dass Emotionen uns nicht überrollen, sondern dass wir deren Stärke regulieren können.
  • dass wir nicht ständig grübeln über Dinge, die schiefgelaufen sind.
  • dass wir uns die Meinung von jemandem anhören können, ohne darauf gleich emotional zu reagieren oder uns angegriffen zu fühlen.
  • dass wir eine Pause zwischen Reiz und Reaktion machen – also erst einmal Luft holen, nachdenken und spüren können.
  • wählen zu können, ob wir uns wohl in unserer Haut fühlen und grundsätzlich Neugier und Freude auf und über unser Leben empfinden.

Eine mangelnde Fähigkeit zur Selbstregulation dagegen hat zur Folge, dass wir nahezu ständig im Stress sind. Manchmal spüren Menschen das kaum noch bewusst, weil es der einzige Zustand ist, den sie kennen.

Sind wir nicht fähig, uns selbst gut zu regulieren, leben wir meist auch reaktiver und haben das Gefühl, dass das Leben uns steuert und wir nur auf Anforderungen reagieren. Wir leben in permanenter innerer Anspannung und sind im Funktionsmodus gefangen.

Wenn der Funktionsmodus zu lange anhält, fühlen wir uns erschöpft, ausgebrannt und freudlos. Vielleicht landen wir irgendwann im Burnout, einer Depression oder es entwickeln sich Ängste. Vielleicht bleiben wir über Jahre in diesem Zustand stecken und stellen irgendwann fest, dass wir unser Leben nicht gelebt haben.

Als Menschen ist unsere innere Ausrichtung immer darauf konzentriert zu überleben und weiter zu funktionieren. Unser Überleben und die innere Sicherheit stehen immer an erster Stelle – egal wie wackelig und wie hoch der Preis. Wir versuchen immer, uns irgendwie zu regulieren, damit die Funktion erhalten bleibt. Das ist grundsätzlich wichtig und richtig, sonst könnten wir unser Leben nicht mehr selbstbestimmt gestalten.

Selbstregulation und das Toleranzfenster

Das Modell des Toleranzfensters oder „Window of Tolerance“ hilft uns, Selbstregulation besser zu verstehen. Es stammt von Dr. Daniel Siegel, klinischer Professor der Psychiatrie an der University of California School of Medicine und Gründer und Co-Direktor des Mindful Awareness Research Center an der UCLA.

Toleranzfenster _ Window of Tolerance

Der optimale Zustand in unserem Toleranzfenster ist Ausgeglichenheit. Der blaue Bereich in der Mitte bezeichnet ein Befinden, bei dem wir in Einklang mit uns selbst sind.
Wir können die Gefühle, die wir haben, gut aushalten. Wir können alle Empfindungen zulassen – von traurig bis wütend. Sie bleiben jedoch in einem Rahmen, den wir nicht als überwältigend erleben und in dem wir noch reflektieren können, wie wir uns fühlen und agieren. Wir haben einen Entscheidungsspielraum bei unseren Handlungen.

Geraten wir in starken Stress oder fühlen uns bedroht, so verändert sich der Zustand unseres Nervensystems. Mit dem Steigen des Stresslevels wird der Sympathikus in unserem Nervensystem immer aktiver und löst irgendwann Ausschläge aus , den Kampf- oder Fluchtreflex – Hyperarousal oder den Reflex von Totstellen/Erstarren – Hypoarousal (die roten Bereiche oben und unten in der Grafik). Beide Male geraten wir aus dem Rahmen unseres Toleranzfensters. Dann können wir nicht mehr gut über unsere Handlungen und Gefühle nachdenken und sehen andere Menschen eher als Gefahr oder fühlen uns schnell angegriffen. Wir können sehr schwer die Perspektive wechseln und uns empathisch in unser Gegenüber einfühlen.

Ein gut reguliertes Nervensystem

Im Normalfall schwingt unser Nervensystem den ganzen Tag hin und her. In Phasen der Ruhe und Regeneration überwiegt der Parasympathikus, und wir können uns entspannen, zurücklehnen und einfach sein. Ein andermal steht der Sympathikus im Vordergrund (der den Organismus auf Aktivitätssteigerung einstellt), und wir sind neugierig und fühlen uns motiviert.
Dann sieht unser Toleranzfenster vielleicht so aus:

Ausschläge Toleranzfenster 1

Die obere und die untere Linie stehen für den Rahmen unseres Toleranzfensters. Die Größe dieses Rahmens entsteht durch die Qualität unserer frühen Bindungen und wie wir behandelt worden sind.
Man kann also ein großes Fenster haben, durch das große Qualitäten von Emotionen stressfrei erlebt werden können. Oder das Fenster kann sehr schmal sein und das Leben wird ständig als stressig erlebt.

Die Folge von Trauma

Die Ausschläge im Toleranzfenster eines traumatisierten Menschen sehen völlig anders aus. Und das Lebensgefühl ist auch sehr verschieden und für andere oft kaum vorstellbar.

Ausschläge Toleranzfenster 2

Die Ausschläge reichen oben und unten weit über den Rahmen des Toleranzfensters hinaus. Es ist eine beständige Achterbahnfahrt, die anstrengt und erschöpft und der sich die Betroffenen oft hilflos ausgeliefert fühlen. Du kannst dies leider über den Kopf nicht verändern. Selbstregulation ist eine sogenannte Bottom-up-Funktion (von unten nach oben), wird also autonom vom Körper und der Psyche geregelt. Keine Sorge, es ist möglich das nachzulernen! Es braucht Zeit, aber es ist möglich.

Bei traumatisierten Menschen ist dieser Zustand oft chronisch geworden. Sie leben ständig in einem Zustand unterschwelliger Bedrohung. Das lässt sich leider nicht abstellen, indem der Verstand begreift, dass keine Gefahr heraufzieht, denn der Körper hat es nicht verstanden. Durch Trauma, unsichere Bindungen und Verletzungen wird die Welt zu einem feindlichen Ort. Wir bleiben in einem Zustand gefangen, aus dem es keine Erlösung gibt. Das ist unglaublich anstrengend und erschöpfend.

Manche Therapieformen versuchen, KlientInnen bestimmte Skills zu vermitteln und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich besser zu regulieren. Leider versagen diese Fähigkeiten oft in stressigen Situationen, da sie reine Top-down-Regulationen (von oben nach unten) sind. Das bedeutet: Wir brauchen unsere Willenskraft, um die Skills anwenden zu können. Und diese steht uns in solchen Situationen nicht zur Verfügung.

Kontakt als Quelle der Selbstregulation

Schaffen wir es nicht mehr, uns aus uns selbst heraus zu regulieren, dann greifen wir auf äußere Ressourcen – funktionale und dysfunktionale — zurück.

Es ist völlig normal, dass wir immer mal wieder Unterstützung brauchen. Niemand kann alles allein.

Kontakt mit anderen aufzunehmen ist einer der wichtigsten Wege, um unser Leben wieder in den optimalen Bereich zu bringen. Wir greifen dann auf die älteste Möglichkeit der Regulation zurück, die wir bereits als Baby gelernt haben: Bei Stress hilft der Kontakt mit Mama.

Wir können uns regulieren, wenn wir das Gefühl haben, jemand ist ganz präsent und für uns da, ohne dass wir etwas tun oder irgendein Verhalten zeigen müssen. Dann finden wir zur Ruhe und können wieder in uns „hineinfallen“. Wir kommen wieder in uns an, können uns neu orientieren und ins Leben gehen. Einen solchen Menschen zu finden, der so für uns da ist, ist ein echtes und seltenes Geschenk. Solltest du in deiner Umgebung so jemanden kennen, dann hüte diese Beziehung wie einen Schatz, der dieser Mensch ja auch ist.

Wir suchen Kontakt, indem wir mit jemandem reden, eine Freundin oder einen Freund anrufen oder unsere BeziehungspartnerIn aufsuchen. Manchmal reicht das Reden jedoch nicht und wir suchen Körperkontakt. Wir wollen in den Arm genommen werden oder uns bei jemandem Vertrauten ausweinen – egal, ob wir 20 oder 80 Jahre alt sind. Meist sieht die Welt dann schon anders aus.

Natürlich können (und sollten) wir auch Schritte lernen, wie wir uns selbst gut regulieren können. Wir werden als Erwachsene nie so viel Co-Regulation erhalten, dass wir selbst nichts mehr tun müssen. Zudem ist es sehr schwer zu fühlen, was man bekommt, und sich zu nähren, wenn man den eigenen Körper nicht spürt.

Schritt für Schritt in die Veränderung

Dennoch gibt es keinen Grund zu verzweifeln, weil sich das alles so frustrierend anhört. Selbstregulation kann man lernen. Wirklich!
Man wird vielleicht nicht Buddha, aber man kann wirklich große Fortschritte machen. Ich habe es gelernt, dann kannst du es auch lernen.

Damit du Selbstregulation lernen kannst, brauchst du deinen Körper. Ich weiß, dass das oft mit Angst verbunden ist. Doch du bist dein Körper. Und alles, was darin ist, ist sowieso längst vorhanden und steuert dein Leben.
Viele Therapieformen ignorieren den Körper immer noch. Leider sind reine Gesprächstherapien bei weitem nicht so erfolgreich, wie man hofft. Unsere Geschichte, unsere Verletzungen und Prägungen sind sehr tief in unserem Körper-Psyche-System gespeichert und prägen unsere Art zu leben, zu fühlen, zu denken und die Welt wahrzunehmen. Durch Erkenntnis alleine, so wichtig diese auch sein mag, verändern sich diese tiefen Prägungen nicht genug.

Deshalb ist es so wichtig, dich über deinen Körper zu erleben und neue Erfahrungen zu machen. Wir können unsere Gefühle und unseren inneren Zustand nur über unseren Körper verändern. Das mag zunächst seltsam klingen. Aber je mehr du dich mit dir beschäftigst und anfängst, deinen Köper wieder oder mehr zu spüren, desto mehr wird es dir einleuchten.

In meinem Online-Kurs „Mit Trauma leben“ unterstütze ich dich dabei, dich wieder mehr spüren und regulieren zu können. Im kostenfreien und unverbindlichen Schnupperkurs zeige ich dir bereits einige Übungen und du kannst ausprobieren, ob diese für dich sinnvoll sind. Falls du möchtest, kannst du dich dann für den großen Kurs „Mit Trauma leben“ anmelden.

Alle Informationen und die Möglichkeit, dich für den Schnupperkurs einzutragen, findest du HIER.

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