Was ist Wut? Das Gefühl kennen wir (fast) alle. Aber wie entsteht Wut und warum ist Wut für viele Menschen ein schwieriges Gefühl?
Wut gehört zu den menschlichen Grundemotionen. Menschen auf der ganzen Welt kennen diese Emotion. Wir würden Wut in den Gesichtern von anderen Menschen erkennen, auch wenn wir in einer vollkommen fremden Kultur unterwegs wären.
Zu den Grundemotionen werden gezählt:
- Wut
- Angst
- Freude
- Überraschung
- Traurigkeit
- Ekel
Emotionen sind lange von der Psychologie und der Wissenschaft vernachlässigt worden. Sie waren zu subjektiv, zu schwammig, zu unwissenschaftlich und so hat man sie nicht erforscht.
Erst in den 1950er Jahren hat sich der Psychologe Paul Ekman der Erforschung der Gefühle gewidmet. Lange zuvor hatte Charles Darwin bereits die Mimik der Emotionen beschrieben und klassifiziert.
Doch was Emotionen für uns bedeuten und was im Körper passiert, wurde lange nicht betrachtet. Erst durch die Verwendung von MRTs bei Versuchspersonen bekam man einen wesentlich tieferen Einblick in die Neurowissenschaft der Emotionen.
Bevor ich weiter auf die Emotion Wut eingehe, ist es wichtig, noch ein paar allgemeinere Dinge über Emotionen (und Gefühle) zu wissen.
Was Emotionen wirklich sind
Im Gegensatz zu unserem persönlichen Erleben sind Emotionen und deren Ausdruck sowie unser Umgang damit in erster Linie von der Kultur abhängig, in der wir leben.
Wir erleben Emotionen als etwas sehr Persönliches, aber ihr Ausdruck ist zum größten Teil durch unsere Umwelt und deren Mentalität geprägt.
Schauen wir uns die Emotion Trauer an. In Deutschland trauern wir recht still. Wir weinen, vielleicht schluchzen wir ein bisschen lauter, aber es ist ein eher in sich gekehrter Prozess.
Gehen wir ein Stück weiter in den Süden, sehen wir bereits Menschen die lautstark trauern, sich auf den Boden werfen und ihrem Schmerz laut Ausdruck geben. Gehen wir weiter z.B. nach Mexiko, so finden wir Menschen, die jährlich am Tag der Toten auf dem Friedhof feiern, essen und tanzen.
Diese Unterschiedlichkeit ist möglich, weil der Ausdruck von Emotionen etwas Gelerntes und nichts Angeborenes ist. In früheren Zeiten hat man zum Beispiel Liebe oder Liebeskummer vollkommen anders ausgedrückt als heute. Die Historikerin Tiffany Watt Smith beschreibt dies sehr anschaulich in ihrem TED-Talk „The history of human emotions“. (Der Vortrag ist auf englisch, du kannst deutsche Untertitel einstellen.)
Da wir Emotionen und Gefühle immer durch unsere persönliche Brille erleben, empfinden wir unsere emotionalen Prozesse als sehr persönlich und individuell. Das sind sie auch und gleichzeitig eben auch nicht.
Sprechen wir dann noch über die ganze Spannbreite von Gefühlen, sind diese noch stärker kulturell geprägt, manche Gefühle sind in anderen Kulturen gar nicht bekannt oder haben eine vollkommen andere Ausprägung.
Die User-Illusion
Wir erleben unsere Emotionen und Gefühle meistens als eine Reaktion auf Reize in der Umwelt. Deswegen haben wir auch oft die Vorstellung, dass andere Menschen unsere Emotionen verstehen oder die gleichen Emotionen haben. Doch das ist nicht unbedingt der Fall. Die führende Emotionsforscherin Lisa Feldman-Barrett stellt unsere Vorstellungen von Emotionen grundsätzlich in Frage und belegt dies durch langjährige Studien.
Emotionen sind eben keine festen Reaktionsmuster auf bestimmte Reize – es war nie möglich zu belegen, dass es feste Muster im Gehirn oder Körper für die einzelnen Emotionen gibt – sondern sie sind Interpretationen bestimmter Körperempfindungen.
Unser Gehirn versucht immer, Muster in der Umwelt zu erkennen, um eine sinnvolle Reaktion zu finden, die unser Überleben bestmöglich sichert. Diese Muster hat das Gehirn durch Erfahrungen gelernt. Je wichtiger oder gefährlicher die Erfahrung, umso prägender. Unsere emotionalen Reaktionen sind demnach eine Reaktion auf alte Erfahrungen und Interpretationen, die wir schon kennen und die unser Gehirn auch jetzt für die aktuelle Situation zutreffend findet.
Das ist nicht leicht für uns zu begreifen, weil wir es subjektiv vollkommen anders erleben und die Wissenschaft lange auch ein anderes Modell zu Grunde gelegt hat.
Dennoch: Emotionale Reaktionen sind nicht festgelegt. Sie sind höchst persönlich und sie sind veränderbar!
Wir interpretieren Empfindungen
Was auf den ersten Blick merkwürdig scheint und sich nicht logisch oder vielleicht sogar unangenehm anfühlt, ist eine große Chance für mehr emotionale Freiheit und Ausgeglichenheit!
Diese Erkenntnis ist ein wichtiger Baustein auch meiner Arbeit als Therapeutin und meines Kurses „Mit Trauma leben – Wege zu mehr Stabilität und Selbstregulation“ . Es geht darum, die Basis für unsere Gefühle aus der automatischen Interpretation der Umweltreize zu lösen und sich wieder spüren zu lernen. Damit bekommen wir die Freiheit, diese Reize neu zu verarbeiten und anders zu interpretieren, somit anders zu erleben, andere Gefühle zu haben und dadurch auch anders reagieren zu können.
Das mag zunächst absurd klingen. Doch wenn du dir einen Moment Zeit nimmst, die körperlichen Empfindungen mancher Emotionen zu spüren, dann wirst du feststellen, dass sich viele dieser Empfindungen sehr ähnlich sind. Wir interpretieren sie nur unterschiedlich – durch Kontext, Stimmung, Umfeld etc. – und lösen dadurch vollkommen andere Gefühle und Reaktionen aus.
Durch diese verschiedenen Interpretationen ist es zum Beispiel möglich, dass ich, wenn ich Bungee springen müsste, vor Angst wahrscheinlich (fast) in Ohnmacht fiele und andere begeistert jauchzend von der Brücke springen. Ich würde das klamme Gefühl im Bauch, die nassen Hände, kaum noch denken zu können, meine Kurzatmigkeit und meine zittrigen Beine als nackte Angst interpretieren, während andere die gleichen Körperempfindungen als schiere und großartige Aufregung erleben!
Wäre ich frisch verliebt und hätte die gleichen Körperempfindungen, würde auch ich diese nicht mehr als Angst interpretieren, sondern als total verliebt.
Unser Gehirn ist rückbezüglich
“Emotionen sind keine Reaktion auf die Welt. Sie (Sie als Person, nicht die Emotion; Anm. DC) sind nicht der passive Empfänger von Sinnesdaten, sondern der aktive Konstrukteur Ihrer Gefühle. Aus den Sinnesdaten und der früheren Erfahrung erzeugt Ihr Gehirn Bedeutung und leitet Handlungen ein.”
Lisa Feldman-Barrett (2023): Wie Gefühle entstehen
In erster Linie sind Emotionen und Gefühle Konstruktionen unseres Gehirns, das beständig versucht, unser Überleben zu sichern. Dabei bezieht es sich immer auf alte Daten, also Erfahrungen. Unser Gehirn versucht kontinuierlich die Zukunft vorauszusagen und festzustellen, wie wir am besten mit dem aktuellen oder zukünftigen Geschehen umgehen können. Dafür zieht es die Daten heran, die es hat. Aus diesem Grund hängen so viele traumatisierte Menschen in endlosen Schleifen von Angst, Misstrauen und Leiden fest. Ihr Gehirn erkennt immer wieder Muster der Gefahr in der Welt, weil es dies leider so umfassend erfahren hat und nur diese Daten über die Welt hat.
Die gesellschaftliche Bedeutung von Gefühlen
Vor noch wenigen Jahrzehnten waren Gefühle kaum von Bedeutung. Man sprach nicht über sie, sie waren nicht der Gegenstand von Forschung und auch im Alltag waren Gefühle wenig Thema. Rationalität war gefordert. Man hatte noch die Vorstellung, dass unser Gehirn lediglich zum Denken und für rationale Rückschlüsse da sei und Emotionen eine eher unbedeutende und weibliche Domäne seien.
Dies hat sich inzwischen verändert und fast ins Gegenteil verkehrt.
Heute wird häufig von Emotionen gesprochen. Das emotionale Wohlergehen steht im Mittelpunkt und die Rücksichtnahme auf die Gefühle der Mitmenschen ist gefordert. Gefühle werden als Tatsachen behandelt, die enormen Raum einnehmen dürfen. Da man Gefühle nicht begründen können muss, hat sich hier ein riesiger Raum von Anforderungen an uns aufgetan, die wir oft kaum erfüllen oder bewältigen können.
Der Wandel begann in den 1960er Jahren. Mit der Studentenbewegung, der sogenannten sexuellen Revolution, der Politisierung des Privaten entstand auch die Flower-Power-Bewegung, die eher an der spirituellen Entwicklung des Menschen interessiert war. Es entstanden Therapieformen, die Menschen helfen sollten, ihre Gefühle mehr zu spüren und sich aus der Rigidität der Normen zu befreien. Wilhelm Reich entwickelte Methoden, um den sogenannten Körperpanzer von Menschen aufzubrechen, der sie am Spüren ihrer Gefühle und an Lebendigkeit hinderte. Auch durch die Experimente mit Drogen, Psychotherapie mit LSD, die Entwicklung des holotropen Atmens und anderen ausagierenden Therapiemethoden veränderten sich mit der Zeit die Bedeutung von Gefühlen und unser Umgang damit.
Wut ausleben statt Wut kontrollieren?
Es setzte sich mehr und mehr die Idee durch, dass es wichtig sei, Gefühle “rauszulassen”. Insbesondere Wut (und sexuelle Energie) nahmen dabei eine zentrale Rolle ein. Wahrscheinlich lag es daran, dass gerade Wut bei Kindern früher enorm unterdrückt wurde, die Erziehung sehr rigide war und mit vielen körperlichen Strafen arbeitete, nicht nur im Elternhaus, sondern auch in der Schule oder sonstigen Orten, an denen Kinder betreut wurden. (Filmempfehlung: „Das weiße Band„- bitte nicht unbedingt alleine schauen)
Ablehnung, Gewalt und Demütigung erzeugen Wut in uns. Je früher in unserem Leben dies passiert, desto mehr ist das Gefühl eher Rage, die sich anfühlt wie ein zerstörerischer innerer Vulkan.
Es setzte sich die Idee durch, dass es krank mache und schädlich sei, wenn man die eigene Wut nicht ausagiere. Parallel dazu entwickelte sich die Idee, dass man seine Wut auch in Beziehungen rauslassen müsse, dass “reinigende Gewitter“ gut seien für die Beziehung.
Konrad Lorenz publizierte das sogenannte Dampfkesselmodell. Eine ähnliche triebtheoretische Auffassung vertrat bereits Sigmund Freud. “Wie Lorenz nahm Freud eine endogene Quelle des Aggressionstriebes an. Dieser Trieb müsse sich entladen in direkter Aggressivität, durch Betrachten von Gewalttätigkeiten z. B. in Filmen, durch Zerstörung unbelebter Gegenstände, Teilnahme an Wettkämpfen oder dem Streben nach Machtpositionen. Falls die Aggressivität in dieser Weise nicht ausgelebt wird, kann es zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen kommen.” (Quelle)
Diese, heute als unwissenschaftlich geltende Theorie hat sich dennoch in vielen Köpfe gehalten.
Wir müssen nicht zwangsläufig mit Wut reagieren
Leider ist das Gegenteil der Fall. Wer seine Wut immer wieder auslebt, wird immer wütender. Und hat immer mehr Wut auf immer mehr Dinge.
Wie schon beschrieben, entstehen unsere Gefühle auf Grund von Erfahrungen und Interpretationen.
Wut entsteht meist dadurch, dass wir uns ungerecht behandelt fühlen, etwas ungerecht finden oder uns angegriffen fühlen. Auch hier ist von Bedeutung, dass wir die Situation so interpretieren – unsere Interpretation bedeutet nicht, dass es wirklich gerade so ist.
Und selbst wenn uns jemand verbal angreift, müssen wir darauf nicht zwangsläufig mit Wut reagieren:
- Wir könnten interpretieren, dass es jemandem schlecht geht und Mitgefühl haben.
- Wir könnten ruhig, aber bestimmt eine Grenze ziehen.
- Wir könnten darüber lachen und weggehen …
Für uns selbst fühlt sich unsere Reaktion meist als die einzig mögliche – und richtige! – Reaktion an. Doch es gibt immer mehr als die eine Möglichkeit, auf Umstände zu reagieren.
Wut erzeugt mehr Wut
Das Problem mit Emotionen und Gefühlen ist, dass wir mit unseren Reaktionen auch neuronale Bahnungen schaffen und verstärken. Fangen wir also an, bestimmte Gefühle immer wieder zu erzeugen, werden wir sie auch immer öfter fühlen. Das gilt ebenso für angenehme Gefühle.
Da wir Gefühle aus unseren Empfindungen interpretieren, kann dies dazu führen, dass wir Wut als grundlegendes Gefühl für unser Leben etablieren. Buddhisten sagen dies schon seit langer Zeit: Wut erzeugt immer mehr Wut. Inzwischen belegen dies auch die Neurowissenschaften.
Wut ist auch dahingehend problematisch und als Reaktion “verführerisch”, weil sie ein sehr machtvolles Gefühl ist und uns erlaubt, unsere Angst oder Unsicherheit nicht zu fühlen. Es kann ein “Ausweichgefühl” (ein sog. Sekundärgefühl) werden, das uns vor unserer Hilflosigkeit, Scham und Angst schützt. Wir sehen dies oft bei Kindern, die stark beschämt werden oder viel Bindungsunsicherheit erfahren. Sie werden oft sehr wütende Kinder, die Dinge kaputt machen oder Streit suchen.
Wut erzeugt großen Stress in unserem Körper. Der Cortisolspiegel steigt und chronische Wut kann zu adrenaler Erschöpfung und dauerhaftem Stress führen, selbst wenn die betreffende Person das nicht spürt.
Außerdem ist Wut ein Gefühl, das Beziehungen zerstört. Niemand möchte eine längere Beziehung mit jemandem führen, der ständig wütend ist und andere diese Wut spüren lässt. Da wir unsere Welt interpretieren und konstruieren, finden Menschen leider immer eine Begründung für ihre Gefühle im Außen. Sie können genau “belegen”, warum sie so wütend sind und warum das logisch und gut ist. Dies nennt man Externalisierung von Gefühlen. Man schaut nach außen, um Gründe für den eigenen inneren Zustand zu finden.
Der wichtige Unterschied: Gefühle haben oder Gefühle ausleben
Ich höre oft: „Ich habe ein Recht auf meine Wut!“
Selbstverständlich hat jeder ein Recht, die eigenen Gefühle zu fühlen. Wir haben jedoch kein Recht darauf, diese dann beliebig auszuleben. Das ist der gravierende Unterschied.
Wenn ich darlege, warum es nicht gut ist, die eigene Wut “rauszulassen” oder zu fördern, wird mir gelegentlich vorgeworfen, ich wolle, dass Menschen ihre Gefühle unterdrücken. Doch darum geht es genau nicht. Wir dürfen jedes Gefühl haben. Gefühle sind einfach Gefühle. Sie kommen und gehen und gehören zum Leben dazu.
Es kommt aber darauf an, was wir mit dem Gefühl machen. Das ist der große Unterschied zwischen Menschen. Unser Umgang mit unseren Gefühlen hat eine große Auswirkung auf unsere Beziehungen und unser Lebensglück. Letztlich macht uns diese Umgangsweise mit unseren Gefühlen zu angenehmen oder eher unangenehmen Mitmenschen.
Es ist wichtig, dass wir diesen Unterschied wirklich verstehen: Einerseits Gefühle zu haben und sie wahrzunehmen und andererseits die Art und Weise diese Gefühle zu äußern oder auszuleben.
An anderen Stellen ist diese Unterscheidung für viele anscheinend viel leichter zu verstehen und selbstverständlicher als bei Wut. Ein einfaches Beispiel dafür, dass uns allen der Unterschied vertraut ist, ist Anziehung. Sicherlich hast du dich schon mal von jemandem angezogen gefühlt, aber dich entschlossen dieser Anziehung keinen Raum zu geben und sie nicht auszuleben. In diesem Fall hast du deine Entscheidung wahrscheinlich aus unterschiedlichen Beweggründen getroffen. Sei es, dass du in einer Beziehung warst oder dass du keinen Raum für diese Gefühle hattest oder wusstest, dass die andere Person in einer Beziehung ist.
Du hast wahrscheinlich zu keiner Zeit gedacht: „Wenn ich dieses Gefühl nicht auslebe, dann macht mich das krank. Ich sollte das Gefühl nicht unterdrücken, sondern es muss ausgelebt werden. Jetzt sofort.“ So gibt es viele Beispiele, bei denen uns bewusst ist, dass man zwar alles fühlen darf, aber nicht alles ausleben sollte.
Wenn Traumabetroffene ihre Wut unterdrücken
Einigen von Trauma Betroffenen Menschen ist das Gefühl von Wut fremd. Sie durften als Kinder nicht wütend werden. Für sie wäre es (lebens-)gefährlich gewesen, ihre Wut zu zeigen, weil ihnen dann nackte Gewalt entgegenkam oder sie mit kaltem Liebesentzug bestraft wurden. Für diese Betroffenen ist Wut oft ein sehr fremdes Gefühl und für sie ist es wichtig, sich auch dieses Gefühl wieder anzueignen.
Ich selbst gehörte zu diesen Menschen. Es hat mich viel Zeit gekostet, ein „normales“ Verhältnis zu Wut zu bekommen. Ein Pfad war für mich der Kampfsport und vor allem Wendo (Selbstverteidigung und Selbstbehauptung für Frauen und Mädchen). Dort lernte ich in Rollenspielen, wie ich mich in Konflikten behaupten konnte. Für mich war hilfreich, mich in Situationen, in denen mir über den Verstand klar war, dass sie nicht in Ordnung waren, zu fragen: Wie würde ich reagieren und aussehen, wenn ich wütend wäre und mich wehren würde? Ich habe diese Reaktion dann “gespielt” und nach ein paar Sekunden konnte ich dann meinen Ärger oder meine Wut wirklich spüren und handeln. Ohne den Begriff damals zu kennen, habe ich sozusagen “fake it until you make it” angewendet.
Die Ausnahmen: Wann es wichtig ist, mit Wut zu arbeiten
Manchmal kann es in therapeutischen Situationen sinnvoll sein, mit der Wut oder Rage zu arbeiten und sie auszudrücken. Der Punkt – der absolut wichtige und kritische Punkt – dabei ist allerdings, dass dies im Kontakt und kontrolliert (reguliert) geschieht. Sollen Menschen einfach eine Matratze oder ein Kissen verprügeln und ihre Wut rauslassen, so führt dies oft in die Dissoziation. Sie schlagen nur noch blindwütig auf das Kissen ein, ohne sich zu spüren und ohne noch wahrzunehmen, wo sie sind und was in ihnen los ist.
Wut oder Rage haben eine sehr hohe Energie. Man muss lernen, diese in sich halten zu können und dabei bewusst zu bleiben. Wir wollen ja eben nicht die Wut immer mehr als scheinbares Ventil bahnen, sondern lernen, die Wut regulieren zu können. Im therapeutischen Umgang bedeutet dies, dass man nur zwei- bis dreimal auf das Kissen schlägt, dies im Kontakt mit der Therapeutin (oder dem Begleiter) tut und dann wieder stoppt und spürt, was im Körper vorgeht und welche Prozesse in Gang kommen. So kann mit der Zeit gelernt werden, dass man auch Wut oder Rage in sich halten kann, diese bewusst wahrnimmt und so nicht im Alltag oder in Beziehungen ausagiert.
Differenzierung führt zu mehr Handlungsspielräumen
Wie gut wir uns und unseren Körper spüren, ist ein weiterer wichtiger Faktor für die Fähigkeit, Wut und Gefühle insgesamt gut zu regulieren. Darüber habe ich schon viel gesagt und geschrieben. Selbstregulation, also auch die Regulation von Gefühlen, ist nur möglich, wenn wir lernen, unseren Körper und unsere Empfindungen zu spüren.
Je nachdem, wie gut wir unseren Körper, die Empfindungen und Gefühle in uns wahrnehmen, umso differenzierter können wir meist auch unsere Gefühle benennen. Dieses Differenzierungsvermögen, emotionale Granularität genannt, hilft uns im Alltag enorm dabei, uns zu orientieren, zu regulieren und zu kommunizieren.
Menschen mit geringer Gefühlsgranularität sagen z.B. eher: Mir geht es schlecht. Ein Mensch, der sich besser spüren kann, wird vielleicht sagen: Ich bin etwas angeschlagen und traurig.
Je mehr wir differenzieren können, desto mehr Möglichkeiten des Umgangs mit unseren Gefühlen haben wir und desto mehr Handlungsspielraum zeigt sich für uns.
Mit der Zeit können wir lernen, unsere Gefühle und die daraus entstehenden Impulse immer mehr zu beobachten. Wir können immer leichter die wichtige Pause zwischen Reiz und Reaktion machen. Und wir erfahren womöglich, dass eine Situation ganz anders ist, als sie sich auf den ersten Blick dargestellt hat und dass unsere Gefühlsreaktion mehr auf unserer Geschichte beruht als auf der tatsächlichen Situation.
Das macht mit der Zeit das Leben viel bunter und friedlicher, wie ich selbst erfahren durfte. Der Weg lohnt sich.
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