Schmerzhafte Kindheit – wie gehe ich heute mit meinen Eltern um?

Älteres Paar (Mann und Frau) schaut gemeinsam aus einem Fenster

Es ist eine dieser Fragen, die oft im Verborgenen schwelen. Die nicht laut ausgesprochen werden, weil schon die Frage selbst Schuldgefühle auslöst:
Darf ich mir überhaupt die Frage stellen, ob ich Kontakt mit meinen Eltern haben will?
Und was mache ich mit der tiefen Ambivalenz – dem Wunsch nach Liebe und dem gleichzeitigen Schmerz?
Darf ich Abstand wollen, obwohl sie meine Mutter und mein Vater sind?

Wenn du aus einer Kindheit kommst, in der du verletzt wurdest, emotional, körperlich oder seelisch vernachlässigt, dann sind diese Fragen herausfordernd. Sie sind zutiefst existenziell. Und sie verdienen eine ehrliche, mitfühlende Suche nach Antwort.

Wichtig ist hier: Es gibt keine allgemeingültige Antwort. Du musst diese Antwort für dich finden, denn es ist dein Leben und deine Geschichte.

Es kann unterstützend sein, dir darüber klar zu werden, welche Kräfte hier in dir wirken und diese gut anzuschauen, damit du für dich zu einer guten Antwort kommst. Und bitte nicht vergessen: Auch Antworten können sich im Laufe der Zeit ändern! Du musst keine Lösung für den Rest deines Lebens finden.

Warum uns diese Frage so schwerfällt

Schon als kleine Kinder lernen wir: Eltern sind gut. Eltern meinen es gut. Eltern muss man lieben.
In vielen Kulturen – und auch in unserer – ist das tief verankert. Wir sprechen davon, die Eltern zu „ehren“, selbst wenn sie uns verletzt haben. Und noch heute halten viele Menschen diesen Anspruch für unantastbar.

Doch genau hier beginnt oft die innere Zerrissenheit. Denn was ist, wenn du Eltern hattest, die dich nicht beschützt, nicht gesehen, nicht liebevoll begleitet haben? Was, wenn du bis heute darunter leidest?

Dann kann sich die Bindung wie ein unsichtbares Band anfühlen – eines, das dich festhält. Auch wenn es schmerzt. Das Problem ist, dass wir oft da am stärksten gebunden sind, wo wir am wenigsten bekommen haben!

Warum die Bindung an die Eltern so stark bleibt – selbst (oder gerade) bei Trauma

Diese Frage wird mir oft gestellt – und die Antwort ist nicht einfach, aber sie ist entscheidend:
Die Bindung an unsere Eltern ist keine freiwillige Entscheidung. Sie ist biologisch verankert.

Schon als Säuglinge sind wir auf Beziehung angewiesen – auf Nähe, Nahrung, Schutz. Das sogenannte Bindungssystem, beschrieben von John Bowlby u.a., sichert unser Überleben. Und dieses System kennt keine moralische Bewertung. Es fragt nicht: „Sind diese Eltern gut für dich?“ – Es fragt nur: „Bist du in der Nähe der Bezugsperson?“

Selbst wenn wir verletzt oder verlassen werden – wir bleiben emotional gebunden. Das nennt man traumatische Bindung: eine enge emotionale Verbindung zu Menschen, die gleichzeitig Quelle von Angst oder Schmerz sind.

Kinder suchen die Schuld für das Verhalten der Eltern leider immer bei sich selbst. Vielleicht kennst du diese Gedanken, vielleicht sogar noch heute: „Wenn ich anders wäre, würden sie mich vielleicht lieben.“

Dieses Muster kann bis ins Erwachsenenleben wirken – oft unbewusst. Es hält uns in Beziehungen, die längst nicht mehr gut für uns sind.

Die stille Loyalität zu den Eltern – und ihre Folgen

Wir sprechen in der Psychologie von „Loyalität“ – einer tiefen inneren Bindung, oft unbewusst, die uns sogar dazu bringt, an etwas festzuhalten, das uns nicht guttut.

Diese Loyalität ist besonders stark in Familien. Weil wir dazugehören wollen. Weil wir hoffen. Weil wir glauben, dass wir müssen. Weil sehr lange Tradition auf uns wirkt.

Diese innere Loyalität bringt uns oft dazu, unseren Schmerz und unsere Erfahrungen klein zu reden. Wir vergleichen uns mit anderen, die es ja „viel schlimmer“ hatten als wir. Wir haben Verständnis für unsere Eltern, die ja „nicht anders konnten“ oder es „selbst ja schlimm hatten“.

Leider haben wir oft nicht gelernt, dass es zwei Realitäten gleichzeitig geben kann. Wir haben oft nicht gelernt, dass es ein „und“ geben darf. In dem Moment, in dem wir Verständnis für unsere Eltern haben oder unseren Schmerz kleinreden, darf unsere Erfahrung keine Bedeutung mehr haben.
Richtig wäre aber: „Meine Eltern hatten es schwer und ich habe sehr unter ihnen gelitten.“
„Ich habe unendlich viel Schmerz in mir und es gibt andere Menschen, die auch Schmerzen haben.“

Das eine schließt das andere nicht aus!

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Kontakt zu Mutter und Vater sollte freiwillig sein

Lange war es undenkbar, dass ein Kind den Kontakt zu seinen Eltern infrage stellt. Heute, als Erwachsene dürfen wir uns erlauben zu sagen: Bindung ja – aber nicht um jeden Preis.
Du bist heute erwachsen, du darfst entscheiden, mit wem du Kontakt haben möchtest. Der Kontakt zu den Eltern kann bis heute schmerzhaft sein. Und wenn dies so ist, dann musst du ihn nicht aufrechterhalten.

Wenn dich eine Beziehung weiterhin verletzt, darfst du sie verlassen – auch wenn es deine Eltern sind.

Schuld oder Hoffnung können uns ein Leben lang binden. Doch heute bist du erwachsen und kannst entscheiden, ob du auf diese Art und Weise gebunden sein möchtest. Oder ob du doch lieber Kontakt mit Menschen suchst, die dich sehen, mögen und unterstützen.


Der Café-Test – ein Blick von außen

Ein Gedankenexperiment, das ich oft empfehle:
Stell‘ dir vor, du stehst vor einem Café. Drinnen siehst du deine Eltern – sie haben dich nicht gesehen. Du beobachtest sie einfach nur.
Und dann fragst du dich:

  • Würde ich mit diesen Menschen freiwillig Zeit verbringen, wenn sie mir unbekannt wären?
  • Sehen sie glücklich aus?
  • Sehen sie aus wie Menschen, deren Meinung, Rat oder Urteil ich annehmen sollte?

Diese Fragen helfen, einen inneren Schritt zurückzutreten – und zu prüfen, ob der Kontakt heute noch stimmig ist. Nicht, ob du „darfst“ – sondern: ob du möchtest.

Frau im mittleren Alter schaut aus einem Fenster. Dahinter sind - unscharf - ein älteres Paar (vielleicht die Eltern) an einem Tisch mit Kaffeetasse zu sehen.

Was macht einen heilsamen Kontakt zu den Eltern aus?

Immer wieder haben Menschen das Bedürfnis, sich mit ihren Eltern auszusprechen, das Gespräch zu suchen und ihnen mitzuteilen, was sie fühlen und wie sie ihre Kindheit erlebt haben.

Solltest du dir das wünschen, dann ist es wichtig, dir über deine Intention sehr klar zu werden und eine gute Entscheidung für dich zu treffen. Ich persönlich rate:

  • Suchst du nach Verständnis, Mitgefühl, Liebe und Gesehenwerden: Dann tue es nicht!
  • Willst du einfach mal gesagt haben, was es zu sagen gibt, aber du erwartest keinerlei Reaktion und kannst mit jeder Reaktion umgehen, ohne dass sie dich belastet oder verletzt: Dann versuche es.

Der Wunsch nach Verständnis oder sogar nach echtem Mitgefühl oder einer Entschuldigung ist absolut verständlich und die Erfüllung dieses Wunsches wäre sicher heilsam. Leider sieht die Realität oft anders aus. Gerade der Umgang mit Entschuldigungen kann sehr verletzend sein. Nicht jede Art von Entschuldigung ist heilsam.

Es gibt Unterschiede:

  • Abwehr-Entschuldigung: „Ja, wir haben auch Fehler gemacht – aber das war ja alles nicht so schlimm.“
  • Schuldumkehr: „Ich weiß, ich war eine schreckliche Mutter – ich kann ja gar nichts richtig machen.“ (und du sollst trösten)

Beides wirft dich wahrscheinlich zurück in alte Rollen, statt dir zu helfen.

Was heilsam wäre, klingt so:

„Ich sehe heute, dass dir manches sehr wehgetan hat. Und ich möchte verstehen, wie das für dich war.“

Du darfst frei entscheiden

Es gibt kein Gesetz, keinen Vertrag, kein Gebot, das dich verpflichtet, dich weiterhin verletzen zu lassen.
Du darfst entscheiden, ob du Kontakt willst. Wie viel. Wann. Unter welchen Bedingungen. Du bist erwachsen und kannst den Kontakt gestalten.

Der Weg, dich von dieser inneren Pflicht zu lösen, ist kein einfacher. Aber er ist möglich. Und er beginnt mit einer Erkenntnis: Du darfst gut für dich sorgen, auch wenn das bedeutet, Grenzen zu setzen oder Abstand zu wählen.

Und vielleicht ist es nicht einmal ein kompletter Kontaktabbruch. Vielleicht ist es ein inneres Loslassen. Ein Abschied von der Hoffnung. Und ein Schritt in dein Erwachsensein und dein eigenes Leben.

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