Chronische Dissoziation: Abspaltung als Dauerzustand

Apfel mit abgespaltenem Stück

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob Dissoziation zum Dauerzustand werden kann. Dass sich diese Frage überhaupt stellt, liegt wohl an einem der Haupt-Irrtümer zum Thema. Allgemein wird meist noch angenommen, dissoziative Zustände entstünden durch bestimmte Reize und verschwänden nach einer gewissen Zeit wieder. Zwar ist diese Annahme nicht falsch und für manche Menschen tatsächlich zutreffend, doch es gibt auch Menschen, die in einer chronischen Dissoziation leben und für die dies durchaus Normalität sein kann.

Grundlage: Was ist Dissoziation?

Zur Frage “Was ist Dissoziation?” habe ich schon ausführlich in meinem Blog geschrieben. Dennoch will ich hier noch einmal knapp die wichtigsten Punkte zusammenfassen, denn sie sind die Grundlage, wenn wir über chronische Dissoziation sprechen.

Grundsätzliche kann man sagen, dass wir bei der Dissoziation etwas von uns abspalten. Was das konkret ist, kann ganz unterschiedlich sein. Oft entsteht eine Dissoziation durch Trauma.
Normalerweise erleben wir die Welt durch unsere Sinne. Diese nehmen unterschiedliche Sinneseindrücke wahr und prozessieren sie in einer bestimmten Form. Hinzu kommen dann noch die verschiedenen Interpretationen und Gedanken, mit denen wir die das Wahrgenommene einordnen. Dieses kohärente Bild gerät nach einem traumatischen Erlebnis aus den Fugen, es beginnt förmlich zu zersplittern.

Dissoziation bei einem Schocktrauma

Durch dieses “Zersplittern” sind Schocktraumata oft nur in Teilen zu erinnern. Manche betroffene erinnern sich zum Beispiel nur an Bilder, haben aber keine Gefühle dazu. Andere erinnern bestimmte Gerüche, zu denen aber die Bilder fehlen.
Es handelt sich dabei um eine Art Sicherungsmechanismus. Beim Schocktrauma springt quasi die Sicherung raus, weil das Ereignis eine Überforderung bringt, die wir nicht bewältigen können. Dies aktiviert das “Not-Aus” und wir fallen in Dissoziation. Viele Betroffene erleben sich in diesem Moment als außenstehend: Sie beobachten sich selbst von oben oder von der Seite aus; sie sehen, was ihnen passiert, sind aber nicht mehr dabei. Dieser Mechanismus ist sehr wichtig und schützt uns vor ganz viel Schmerz.

Nach der Dissoziation kommen wir allerdings nicht mehr vollständig zurück. Es ist, als bliebe ein Teil von uns weg, nämlich jener, der mit dem Erlebten nicht umgehen kann. Das schmerzhafte Ereignis hat so viel Energie gebunden, dass es unmöglich ist, sich ihm zu nähern, weil wir sofort wieder zu zersplittern drohen.

Dissoziation bei Entwicklungstrauma

Dissoziation tritt aber nicht nur beim Schocktrauma auf, auch beim Entwicklungstrauma kann eine Abspaltung erfolgen. Ein Entwicklungstrauma entsteht, wenn wir als Kind sehr viel Stress hatten, immer wieder gedemütigt wurden, in einer lieblosen Umgebung aufgewachsen sind und nicht freundlich gespiegelt wurden. Was hier nach Kleinigkeiten klingen mag, ist in Wirklichkeit alles andere als klein; es ist zutiefst belastend und kann zu einer Traumatisierung führen.

Auch mit diesem Schmerz können wir nicht richtig umgehen und “packen ihn weg”, um weiter funktionieren zu können. Doch natürlich ist der Schmerz dann nicht einfach weg. Er ist verpackt in Spannung. Die Folgen sind weitreichend:

  • Wir spannen immer mehr an.
  • Wir entwickeln bestimmte Überzeugungen, die uns vor dem Schmerz schützen sollen.
  • Wir entwickeln ein falsches Bild von uns selbst, das uns vermeintlich beim Umgang mit dem Schmerz hilft. (Wir suchen die Schuld am Schmerz in uns selbst und haben die Vorstellung, dass wir durch Änderungen an uns selbst den Schmerz beenden können. Wir erhalten ein Gefühl von Kontrolle über die Situation, das aber trügerisch ist, weil es nicht stimmt.)

In diesem Prozess entfernen wir uns sukzessive immer weiter von uns selbst. Wir spalten bestimmte Gefühle und Ereignisse ab und lagern diese in uns ein, in unserem Körper, in Muskelspannung, in den Faszien, im Bindegewebe und im Gedächtnis. Es gibt Menschen, die, wenn diese Einlagerungen zu viel werden, ihren Körper gar nicht mehr spüren. Sie leben quasi nur noch in ihrem Kopf, sie wissen, dass auch darunter noch etwas kommt, wohnen aber nicht darin. Sie können die Gefühle und Empfindungen nicht benennen, weil sie sich selbst gar nicht mehr fühlen. Wenn man so will, dissoziieren diese Menschen ihren gesamten Körper.

Andere wiederum dissoziieren bestimmte Emotionen, sie äußern dann über sich selbst, dass sie keine Trauer oder keine Wut fühlen, dass sie das Gefühl von Angst nicht kennen oder nichts außer Scham empfinden.

All das sind Formen der chronischen Dissoziation.

Chronische Dissoziation hat auch Einfluss auf Erinnerung

Je weiter diese chronische Dissoziation sich entwickelt, je mehr abgespalten wird, desto weniger sind wir in unserem Leben präsent und mit all unseren emotionalen Kapazitäten und unserer Aufmerksamkeit in Situationen zugegen. Nur dann, wenn wir präsent sind, sind wir aber Teil von etwas, gehen in Resonanz und bilden Erinnerungen. Das heißt, dass wir durch das Leben in der Dissoziation auch unser Erinnerungsvermögen negativ beeinflussen.

Wenn Menschen sagen “Ich erinnere mich nicht.”, bedeutet das eigentlich, dass sie nicht wirklich dabei waren. Wenn man emotional nicht wirklich in einer Situation war, kann man sich nicht gut erinnern oder es wird bei der Erinnerung sehr grau. Diese Form der Erinnerung ist ein Zeichen für eine chronische Dissoziation. Es sagt: “Ich bin eigentlich gar nicht da.”

Wenn chronische Dissoziation als normal verstanden wird

Viele Menschen, die im Zustand der chronischen Dissoziation leben, empfinden dies als normal. Darunter gibt es dann jene, denen auffällt, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt, dass ihrem Leben Tiefenschärfe fehlt und sie nicht viel fühlen. Auf der Suche nach dem “warum” begebene sie sich dann zwangsläufig auch auf den Weg zu sich selbst.
Es gibt aber auch jene Menschen, denen ihre mangelnde Anwesenheit gar nicht auffällt. Sie denken, das Leben sei einfach so, betäuben sich (mit Arbeit oder Alkohol) und denken, das Leben fühle sich eben so an.

Fakt ist: Dissoziation, auch die chronische, ist etwas, das uns vor Dingen schützt, die wir nicht aushalten. Auch wenn der oft genutzte Begriff der “dissoziativen Störung” es impliziert, ist die Dissoziation an sich nicht krankhaft, sondern ein Schutzmechanismus. Gleichsam ist es aber natürlich auch nicht “gesund”, wenn man die Problematik nicht auflöst und ständig und chronisch dissoziiert lebt.

Was mir wichtig ist: Dissoziation kann chronisch sein

Mir ist wichtig, dir zu sagen, dass Dissoziation nicht nur ein Zustand ist, der auftritt, wenn eine bestimmte Erinnerung aufkommt oder für einen Moment alles zu viel ist. Vielmehr ist eine chronische Dissoziation keine Seltenheit. Sie äußert sich darin, dass man das Gefühl hat, nur zu funktionieren, statt lebendig zu sein. Dass man das Leben so wahrnimmt, als zöge es an einem vorbei, weil man nicht mehr in tiefe Emotionen kommt. Dieses Unvermögen zu tiefen Empfindungen liegt in der Dissoziation begründet. Auch aufkommender Stress, wenn es um Nähe und Intimität geht, kann ein Anzeichen sein.

Wenn es dir so geht oder du das Gefühl hast, bestimmte Gefühle oder Wahrnehmungen nicht spüren zu können, dann kannst du dich auf die Suche machen und dich fragen: “Bin ich eigentlich da? Bin ich in mir und fühle ich mich? Bin ich präsent in dieser Situation?”

Es ist nicht unmöglich, mit einer chronischen Dissoziation zu leben. Wenn du aber daran arbeiten und dich auf die Suche nach dir machen willst, dann entdecke meine Kurse zur Trauma-Selbsthilfe oder nimm eines unserer psychotherapeutischen Angebote wahr.

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